EINE OFFENE RECHNUNG | The Debt
Filmische Qualität:   
Regie: John Madden
Darsteller: Helen Mirren, Sam Worthington, Jessica Chastain, Jesper Christensen, Marton Csokas, Ciarán Hinds, Tom Wilkinson, Romi Aboulafia
Land, Jahr: USA 2010
Laufzeit: 113 Minuten
Genre: Thriller
Publikum: ab 16 Jahren
Einschränkungen: G +
im Kino: 9/2011
Auf DVD: 1/2012


José García
Foto: Universal

Die Möglichkeit, eine Lebenslüge am Lebensende wieder gutzumachen, eine zweite Chance dafür zu bekommen, gehört zu den Sujets, der sich die Literatur, aber auch das Kino immer wieder annimmt. Meistens spielt dabei eine entscheidende Rolle der Wunsch, für eine weit in der Vergangenheit zurückliegende Verfehlung Sühne zu leisten, so etwa in Joe Wrights „Abbitte“ (siehe Filmarchiv), der Filmfassung des gleichnamigen Romans (Originaltitel „Atonement“, 2001) des britischen Schriftstellers Ian McEwan. Ähnlich gibt sich die Protagonistin in Lajos Koltais „Spuren eines Lebens“ (siehe Filmarchiv), der Verfilmung des Romans „Hochzeitsnacht“ (Originaltitel: „Evening“, 1998) der amerikanischen Autorin Susan Minot, über ein Versäumnis aus ihrer Jugend Rechenschaft.

Die Wahrheitsfindung nach Jahrzehnten steht ebenfalls im Mittelpunkt des Spielfilms von John Madden „Eine offene Rechnung“, dessen Originaltitel „The Debt“ die auf den Protagonisten lastende Schuld sowie die dafür zu leistende Wiedergutmachung anschaulicher zum Ausdruck bringt. Der Film beginnt mit einer Buchvorstellung: Im Jahre 1997 liest in Tel Aviv eine junge Frau aus ihrem Buch, in dem sie die Heldentat ihrer inzwischen geschiedenen Eltern Rachel Singer (Helen Mirren) und Stephan Gold (Tom Wilkinson) feiert. Zusammen mit David Peretz (Ciarán Hinds) wurden sie Ende 1965 in geheimer Mission nach Ost-Berlin geschickt, um den berüchtigten Nazi-Kriegsverbrecher Dieter Vogel (Jesper Christensen), den Chirurgen von Birkenau, zu entführen.

Regisseur Madden führt nun eine zweite Zeitebene ein: Die drei Mossad-Agenten Rachel, Stephan und David (nun von Jessica Chastain, Marton Csokas und Sam Worthington dargestellt) haben sich 1965 in einer schäbigen, renovierungsbedürftigen Wohnung in Ost-Berlin eingemietet. Während sie ihren Geheimauftrag planen und sich fit halten, lernt der Zuschauer ihren unterschiedlichen Charakter kennen: Erweist sich Helen selbst im Nahkampf als ungemein ehrgeizig, so wird David vom Idealismus getrieben, während Stephan als Kommandeur auf kühle Berechnung setzt. Nachdem der Gynäkologe Dr. Bernhardt zweifelsfrei als „der Schlächter von Birkenau“ identifiziert wurde, wird ein ausgeklügelter Plan entworfen, um Dr. Vogel alias Dr. Bernhardt nach Israel zu entführen, um ihm dort wie Adolf Eichmann den Prozess zu machen. Doch der Plan scheitert und die drei Mossad-Agenten sehen sich gezwungen, sich die dunkle, winzige Wohnung mit dem verhassten „Gefangenen“ zu teilen, bis sich eine weitere Fluchtmöglichkeit eröffnet. Insbesondere Rachel fühlt sich einem psychischen Nervenkrieg ausgesetzt: Sie darf die stickige Wohnung nicht verlassen, sie wird Zielscheibe der psychologischen Kriegsführung Dieter Vogels und darüber hinaus steckt sie im Mittelpunkt eines verhängnisvollen Liebesdreiecks zwischen ihren beiden männlichen Kollegen.

Genau am 31. Dezember 1965 versucht Vogel zu fliehen und wird dabei von Rachel erschossen. So wenigstens die offizielle Version, die drei Jahrzehnte lang den Heldenruhm der drei Mossad-Agenten begründete. Nach mehr als dreißig Jahren befördert das Buch von Rachels Tochter die unterdrückten Gefühle von Schuld und Reue erneut an die Oberfläche. Eine überraschende Wendung zwingt Rachel, sich im Jahre 1997 ihrer Vergangenheit zu stellen.

„Eine offene Rechnung“ verknüpft wie etwa die Genre-Klassiker „Die drei Tage des Condor“ (Sydney Lumet, 1975) oder „Der Marathon-Mann“ (John Schlesinger, 1976) Elemente des Agententhrillers mit denen des Psychodramas. Folgerichtig inszeniert ihn Regisseur Madden betont klassisch, wobei dem hervorragenden Produktionsdesign von Jim Clay eine Hauptrolle in der Schaffung von Atmosphäre zukommt: Die in helles Sonnenlicht getauchte Eingangssequenz, der eine Spur Unwirklichkeit beiwohnt, kontrastiert mit der dunklen, klaustrophobisch wirkenden Wohnung. Die Übermittlung von Nachrichten in öffentlichen Verkehrsmitteln sowie die spannungsgeladenen Szenen am Geisterbahnhof fügen sich in deren Inszenierung in die Agentenfilme der sechziger und siebziger Jahre nahtlos ein. Betont der streckenweise eine ungeheure Spannung erzeugende Schnitt von Alexander Berner diesen Eindruck, so unterstreicht die Kamera von Ben Davis durch knappe Bildausschnitte die Enge, in die sich die Protagonisten gedrängt sehen, deren psychische Belastung die Kameranähe zum Ausdruck bringt.

Spielt „Eine offene Rechnung“ nach dem Muster des Agententhrillers mit den Erwartungen des Zuschauers, führt ihn durch die unterschiedlichen Wendungen in die Irre, um auf diesem Weg die unter einer jahrzehntelangen Mythenbildung verdeckte Wahrheit freizulegen, so bietet er durch die auf zwei Zeitebenen angesiedelte Handlung auch eine zweifach gebrochene Reflexion über Schuld und Sühne: Zur Abrechnung mit dem Nazi-Massenmörder kommt die eigene Vergangenheitsbewältigung hinzu, die Abrechnung mit der eigenen, eine gewaltige Last erzeugenden Lebenslüge.
Diese Seite ausdrucken | Seite an einen Freund mailen | Newsletter abonnieren