ANONYMUS | Anonymous
Filmische Qualität:   
Regie: Roland Emmerich
Darsteller: Rhys Ifans, Vanessa Redgrave, Joely Richardson, David Thewlis, Xavier Samuel, Sebastian Armesto, Rafe Spall, Edward Hogg, Jamie Campbell Bower
Land, Jahr: USA 2011
Laufzeit: 129 Minuten
Genre: Historische Filme
Publikum: ab 16 Jahren
Einschränkungen: X
im Kino: 11/2011
Auf DVD: 5/2012


José García
Foto: Sony

William Shakespeare (1564–1616) zählt zu den meist aufgeführten Theaterautoren der Geschichte. Bei Shakespeare beeindruckt nicht vorwiegend die Zahl der 38 Dramen und 154 Sonette, verfasste etwa sein spanischer Zeitgenosse Lope de Vega (1562–1635) doch mehrere hundert Theaterstücke sowie dreitausend Sonette. Einzigartig am „Barden von Avon“ ist vielmehr das Übermaß an von ihm in die Literatur eingeführten menschlichen Archetypen, die seine Werke bevölkern: Hamlet, Othello, King Lear, Lady Macbeth, Romeo und Julia sind zum Inbegriff der jeweiligen urmenschlichen Eigenschaft geworden. Nicht umsonst nannte etwa Harold Bloom sein 2001 erschienenes, eine neue Welle der Shakespeare-Begeisterung entfachendes Buch „Shakespeare – Die Erfindung des Menschlichen“.

Gerade diese nahezu übergroße Erfindungsgabe hat seit anderthalb Jahrhunderten Wissenschaftler an Shakespeares Urheberschaft zweifeln lassen. Weil einem aus der Provinz stammenden Schauspieler mit geringer Schulbildung solch detaillierte Schilderungen einer Welt, die er gar nicht kannte, kaum zugetraut werden, sind mehrere Theorien über den „wahren“ Verfasser dieser Stücke aufgestellt worden. Seit der Veröffentlichung von J. Thomas Looneys „Shakespeare Identified“ (1920), in dem sich Looney für Edward de Vere, den 17. Earl of Oxford, als den „wahren“ Autor der Shakespeare-Werke aussprach, ist die Forschung in die am Schauspieler aus Stratford-upon-Avon festhaltenden „Stratfordianer“ und die an die Autorschaft Edward de Veres glaubenden „Oxfordianer“ gespalten.

Die Oxfordianer-These vertritt denn auch der nun im Kino anlaufende Spielfilm „Anonymus“ von Roland Emmerich. Nach dem Drehbuch von John Orloff beginnt „Anonymus“ mit einer Dichterlesung des berühmten Schauspielers und Oxfordianers Derek Jacobi in einem New Yorker Theater, der die Frage nach dem „echten“ Shakespeare stellt und die nachfolgend zu sehende Version als eine mögliche Theorie bezeichnet.

Abgesehen von diesem Prolog spielt „Anonymus“ auf drei von mehr als 40 Jahren voneinander getrennten Zeitebenen, was den Einsatz verschiedener Schauspieler für jede der Hauptrollen erforderlich macht: Königin Elisabeth wird in der späteren Version von Vanessa Redgrave, als junge Königin von Redgraves Tochter Joely Richardson, der reife Edward de Vere von Rhys Ifans, dessen jüngere Version von Jamie Campbell Bower verkörpert. Bereits daran wird deutlich, dass William Shakespeare (Rafe Spall) in „Anonymus“ lediglich eine Nebenrolle spielt. Der Film von John Orloff und Roland Emmerich gestaltet den „Barden von Avon“ als sauf- und rauflustigen, mittelmäßigen Theater-Schauspieler und Analphabeten, der die Gelegenheit beim Schopfe packt. In der von „Anonymus“ vertretenen Fassung bietet sich ihm diese durch die Vermittlung von Ben Jonson (Sebastian Armesto) eher zufällig, als der Graf von Oxford einen Strohmann sucht, um seine Theaterstücke aufführen zu lassen. Dem Haupteinwand gegen die Autorschaft Edward de Veres, der bereits 1604 starb, während die Shakespeare-Forschung für elf Shakespeare-Werke ein jüngeres Entstehungsdatum annimmt, begegnet „Anonymus“ auf filmische Weise, nicht durch lange Erklärungen, sondern durch Bilder: In einer Szene sieht der Zuschauer Edward de Vere aus einer unübersichtlichen Anzahl von Mappen eine mit einem bestimmten Theaterstück herausziehen. Beim nahenden Tod des Grafen von Oxford stellt der Schauspieler aus Stratford-upon-Avon die bereits fertiggestellten, aber noch nicht aufgeführten Werke sicher.

Über die Enthüllung des „wahren“ Verfassers der Shakespeare-Werke und die Demaskierung des Schauspielers Will Shakespeare als Hochstapler hinaus zeichnet „Anonymus“ insbesondere Elizabeth I. und den fast siebzehn Jahre jüngeren Edward de Vere als Liebespaar – eine im Film als inzestuös bezeichnete Liaison. Denn nach der Version von Paul Streitz' Buch „Oxford, Son of Queen Elizabeth I” (2002), dem Orloff und Emmerich in ihrem Film folgen, sei der 17. Earl of Oxford in Wirklichkeit ein Sohn der damals kaum 16-jährigen, künftigen Königin gewesen. Roland Emmerich entwirft in „Anonymus“ ein buntes Bild des Elisabethanischen Zeitalters, in das außerdem höfische Intrigen insbesondere durch Elisabeths engen Berater William Cecil (David Thewlis) und dessen Sohn Robert (Edward Hogg), der Konflikt mit der auf den englischen Thron Anspruch erhebenden schottischen, katholischen Königin Maria Stuart und ein Volksaufstand („die Essex-Verschwörung“) Eingang finden. Zu Emmerichs Charakterisierung des Elisabethanischen Zeitalters gehört wesentlich die Förderung der Künste und insbesondere des Theaters durch die Königin, während sich ihr engster Berater Cecil vehement dagegen verwahrt.

Obwohl einige im Computer erstellte Totalen Londons enttäuschen, beeindrucken die detailverliebte Ausstattung der kunstvollen Kulissen etwa des Globe-Theaters und der haptischen Stoffe sowie die schauspielerische Leistung insbesondere von Rhys Ifans in der Darstellung des vielseitigen und innerlich zerrissenen Graf von Oxford.
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