SYSTEM – ALLES VERSTEHEN HEISST ALLES VERZEIHEN, DAS | Das System – Alles verstehen heißt alles verzeihen
Filmische Qualität:   
Regie: Marc Bauder
Darsteller: Jacob Matschenz, Bernhard Schütz, Jenny Schily, Heinz Hoenig, Florian Renner, Jürgen Holtz, Franziska Wulf, Michael Abendroth, Rosa Enskat, Wolfram Koch, Mario Pokatzky
Land, Jahr: Deutschland 2011
Laufzeit: 91 Minuten
Genre: Dramen
Publikum: ab 12 Jahren
Einschränkungen: --
im Kino: 1/2012


José García
Foto: Filmlichter

Zwei Jugendliche brechen in eine geräumige, edle Villa ein. Obwohl sie dabei erwischt werden, lässt sie der Besitzer laufen. Tags darauf bietet der Villenbesitzer Konrad Böhm (Bernhard Schütz) einem der Einbrecher, dem zwanzigjährigen Mike (Jacob Matschenz), einen Job als Assistenten an. Mike fasst dies als Gelegenheit auf, aus seinem Kleinkriminellendasein und aus der Wohnung zwischen den alten Plattenbauten Rostocks herauszukommen, die er sich mit seinem Kumpel Dustin (Florian Renner) teilt. Böhm wiederum fühlt sich offenbar verantwortlich für den Sohn seines alten, vor langer Zeit verstorbenen Stasi-Kollegen, den Mike nie kennengelernt hat.

Heute arbeitet Konrad Böhm als Lobbyist. Dank seiner ehemaligen Kontakte und wichtiger Akten, die er und seine Freunde nach der Wende sicherstellten, mischt Böhm im großen Geschäft mit, so zurzeit beim Bau der russisch-deutschen Erdgas-Pipeline, die mitten durch Mecklenburg-Vorpommern gebaut werden soll. Mike wird von Böhm in diese Welt alter und neuer Seilschaften eingeführt – der Anzug, den der alte Freund seines Vaters für ihn kauft, sowie die Pistole, die zu gebrauchen Mike von ihm lernt, stehen am Anfang von Mikes Verwandlung. Nach und nach gerät der Zwanzigjährige in den Bann des charismatischen Böhm, der für ihn immer mehr zu einer Art Ersatzvater wird. Dies alles gefällt Mikes Mutter Elke (Jenny Schily) ganz und gar nicht. Sie warnt ihren Sohn vor dem manipulierenden Machtmenschen. Richtig verwirrend wird es für Mike, als er herausfindet, dass zu DDR-Zeiten seine Mutter Konrad Böhm näherstand, als sie heute wahrhaben will. Gerade Elkes beharrliches Schweigen treibt Mike dazu an, über die Vergangenheit seiner Eltern nachzuforschen, ehe er über seinen Lebensweg entscheidet.

Mit „Das System – Alles verstehen heißt alles verzeihen“ liefert Marc Bauder sein Spielfilmdebüt. Dass er seit mehr als zehn Jahren als Dokumentarfilmregisseur arbeitet, kommt seinem Film zugute. Denn Kamerafrau Daniela Knapp verbindet opulente Bilder der Ostseeküste mit einem eher dokumentarischen Blick etwa auf den Kontrast zwischen den Plattenbauten und Böhms Villa und Mercedes oder auch auf das Hotel Neptun, wo zu DDR-Zeiten Willy Brandt, Uwe Barschel und Fidel Castro bei Schalck-Golodkowski zu Gast waren. Zur Authentizität seiner Geschichte trägt nicht nur der „Kurzauftritt“ von Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder via Dokumentarbilder bei – dass in der Spielfilmhandlung der Bau einer Erdgas-Pipeline eine zentrale Rolle spielt, ist kein Zufall. Dazu führt Regisseur Marc Bauder aus: „Für mich war wichtig, dass das, was wir erzählen, glaubwürdig und möglich faktennah ist. Wir haben daher lange dokumentarisch recherchiert und alles was wir zeigen, kann man für sich genommen belegen. Aber für uns – meine Co-Autorinnen Dörte Franke und Khyana el Bitar und für mich – war immer klar, dass es ein Spielfilm werden muss. Denn dadurch hatten wir viel mehr Möglichkeiten, die Dinge auf den Punkt zu bringen und das Universelle des Themas herauszuarbeiten. Die Figuren sind daher Fiktion, aber was sie tun, das ist Realität, zusammengebaut aus Realitätsbausteinen.“

Wie realitätsnah die fiktive Figur eines Konrad Böhm entwickelt wurde, erläutert Marc Bauder am Vorstandsvorsitzenden der Firma, die die Ostsee-Pipeline betreibt: Bis zum Mauerfall habe dieser für die Auslandsaufklärung des Ministeriums für Staatssicherheit gearbeitet. „Was ich aber viel spannender finde“, so Bauder, „ist, dass er gleich 1990 von der Dresdner Bank angeworben wurde, um für sie das Bankengeschäft in Russland aufzubauen. Er besorgte prompt die erste Banklizenz für Ausländer in St. Petersburg – Im Rathaus damals zuständig: Wladimir Putin. Das nur als eines von vielen Beispielen zum Thema Kontinuität von Eliten.“

In einem Statement zu „Das System – Alles verstehen heißt alles verzeihen“ erklärt Marianne Birthler, bis März 2011 Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR: „Die Aktualität und der politische Bezug des Themas sind für mich offensichtlich. In der öffentlichen Debatte spielt die DDR nach wie vor eine Rolle, auch die Frage, wie wir im vereinten Deutschland damit umgegangen sind. Da passt der Film sehr gut hinein. Weil er genau die Frage beleuchtet, welche Schatten die Vergangenheit bis heute wirft. Das sind lange Schatten, richtig lange Schatten. Und sie sind umso dunkler und länger, je mehr da verschwiegen wird.“

Jacob Matschenz verkörpert Mike mit einer gewissen orientierungslosen Naivität, die aber in Zielstrebigkeit umschlägt, sobald er eine Perspektive, eine Zielvorstellung erhält. Bernhard Schütz gestaltet seine Figur mit vielen Zwischentönen – ob die Zuneigung zu Mike lediglich vorgespielt ist oder einem Bedürfnis nach Nähe zu dem „Ersatzsohn“ entspringt, bleibt in der Schwebe. Über die Handlung um den Fortbestand alter DDR-Seilschaften hinaus stellt Marc Bauders Film allgemein gültige Fragen, etwa nach der Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit oder nach dem Verdrängen von Schuld.
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