SUMME MEINER EINZELNEN TEILE, DIE | Die Summe meiner einzelnen Teile
Filmische Qualität:   
Regie: Hans Weingartner
Darsteller: Peter Schneider, Henrike von Kuick, Timur Massold, Andreas Leupold, Julia Jentsch, Eleonore Weisgerber, Robert Schupp
Land, Jahr: Deutschland 2011
Laufzeit: 120 Minuten
Genre: Dramen
Publikum: ab 12 Jahren
Einschränkungen: --
im Kino: 2/2012
Auf DVD: 9/2012


José García
Foto: Wild Bunch

In dem mit vier Oscars ausgezeichneten Spielfilm „A Beautiful Mind – Genie und Wahnsinn“ (2001) verarbeitete der amerikanische Regisseur Ron Howard das Leben des genialen Mathematikers John Nash filmisch, der 1994 den Nobelpreis in Wirtschaftswissenschaften erhielt, später aber an paranoider Schizophrenie erkrankte, so dass er in eine Nervenheilanstalt eingeliefert werden musste. Von einem hochbegabten Mathematiker, der nach einem psychischen Zusammenbruch und der Entlassung aus der Klinik einen veritablen sozialen Abstieg erfährt, handelt ebenfalls der nun anlaufende Spielfilm „Die Summe meiner einzelnen Teile“ des österreichischen Regisseurs mit Wohnsitz Berlin Hans Weingartner.

In der ersten Szene sieht der Zuschauer einen offensichtlich verstörten jungen Mann mit freiem Oberkörper im Wald. Nach einer Schwarzblende sitzt er im Polizeiauto und wird abtransportiert. Ob dies der chronologische Anfang der Geschichte von Martin Blunt (Peter Schneider) oder ein vorweggenommener späterer Zeitpunkt ist, um Martins Charakter zu etablieren, wird aufgrund dieses elliptischen Erzählens noch nicht deutlich. Erst nach einem weiteren erzählerischen Sprung kommt „Die Summe meiner einzelnen Teile“ zur Ruhe: Martin Blunt wird aus der Klinik entlassen, nicht ohne dass ihm mit Nachdruck empfohlen wird, seine Tabletten regelmäßig einzunehmen. Er kommt in einer kaum eingerichteten sozialen Wohnung unter, aus der er möglichst bald herauszukommen hofft. Daraus wird jedoch nichts, weil Martin seine alte Arbeitsstelle nicht zurückbekommt, denn sein ehemaliger Vorgesetzter befürchtet einen Rückfall. Ohne Job und ohne Freundin Petra (Julia Jentsch), die ihn längst verlassen hat, verliert Martin bald nach dem vom Gerichtsvollzieher überbrachten Räumungsbescheid auch noch die Sozialwohnung. In eine Obdachlosenunterkunft will er nicht, weshalb Martin in einem Abbruchhaus landet. Mit dem Absetzen der Medikamente und dem übermäßigen Alkoholkonsum beginnt Martin auch seine Umwelt verzerrt wahrzunehmen.

Irgendwann einmal rettet Martin einen etwa zehnjährigen Straßenjungen vor ein paar Schlägertypen. Obwohl Viktor (Timur Massold) nur ukrainisch spricht, entsteht zwischen den beiden über die Sprachbarriere und den Altersunterschied hinweg eine Freundschaft: Viktor weckt in Martin den Beschützerinstinkt. Das Kind entfacht aber auch eine beruhigende und heilsame Wirkung auf Martin. Denn Viktor bringt dem Älteren nicht nur das Flaschensammeln bei, mit dem sie halbwegs über die Runden kommen, sondern versucht immer wieder, Martin das Trinken abzugewöhnen. Viktor bringt Martin darüber hinaus auf die Idee, sich im Wald eine Hütte zu bauen, wo sie wohnen können. Endlich wirkt Martin ausgeglichener, so dass er sich sogar traut, die Zahnarzthelferin Lena (Henrike von Kuick) aufzusuchen, deren weggeworfenen Liebesbrief das Duo in einem Mülleimer gefunden hatte.

Die von Hans Weingartner und seinem Mit-Drehbuchautor Cüneyt Kaya entwickelte Dramaturgie besteht aus zwei voneinander verschiedenen Hälften, die sich ebenfalls in den Schauplätzen widerspiegeln: Die graublauen, entsättigten Bilder der dadurch kalt erscheinenden Großstadt kontrastieren mit den satten Farben des Waldes. Dieser Kontrast reflektiert aber auch den jeweiligen Seelenzustand Martins: Nach der Verwahrlosung und der fast autistischen Desorientierung in der Stadt hellt sich sein Inneres in der Wildnis auf. Dort erlebt er einen von einer leicht optimistischen Gitarrenmusik unterstützten Frühling.

Auf die Frage, ob „Die Summe meiner einzelnen Teile“ ein realistischer Film sei, antwortet Regisseur Hans Weingartner: „Keine Ahnung, Ich würde eher sagen, es ist ein archetypischer Film. Reale Figuren, Emotionen und Lebensumstände werden entkernt und fokussiert.“ Die hyperrealistische Kameraführung von Henner Besuch und der teilweise sprunghafte Schnitt von Andreas Wodraschke und Dirk Oetelshoven lassen manche Passagen halbdokumentarisch, die Beziehung zum kleinen Jungen eher märchenhaft erscheinen. „Die Summe meiner einzelnen Teile“ setzt insbesondere jedoch auf das starke Spiel seiner Hauptdarsteller. Peter Schneider, der vor allem als Theaterschauspieler in Leipzig tätig ist, gelingt ein eindringliches Porträt des aus der Gesellschaft ausgestoßenen Mathematikgenies Martin Blunt, ohne auf Manierismen zurückzugreifen. Aber auch der völlig natürlich wirkende 11-jährige Timur Massold überzeugt. Die Chemie zwischen den beiden Darstellern trägt in hohem Maße zur Authentizität von Weingartners Film bei.

Bei aller Kritik an einer Leistungsgesellschaft, die Stress und dadurch psychische Erkrankungen verursacht (Weingartner: „Pro Jahr werden in Deutschland eine Milliarde Tagesdosen Antidepressiva verschrieben. Wir sind eine Gesellschaft auf dem Weg in die permanente Medikation“), entlässt der Film den Zuschauer nicht ohne Hoffnung, dass Martin Blunt seine Vision vom Leben verwirklichen wird.
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