JUNGE MIT DEM FAHRRAD, DER | Le gamin au velo
Filmische Qualität:   
Regie: Jean-Pierre Dardenne, Luc Dardenne
Darsteller: Thomas Doret, Cécile De France, Jérémie Renier, Egon Di Mateo, Fabrizio Rongione
Land, Jahr: Belgien / Frankreich / Italien 2011
Laufzeit: 87 Minuten
Genre: Dramen
Publikum: ab 12 Jahren
Einschränkungen: --
im Kino: 2/2012
Auf DVD: 8/2012


José García
Foto: Alamode

In den Filmen der Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne wird kaum gesprochen und schon gar nichts erklärt. Die elliptische Erzählweise verlangt außerdem vom Zuschauer Konzentration ab. In ihrem vorletzten, beim Filmfestival Cannes mit der Goldenen Palme 2005 ausgezeichneten Film „"Das Kind" machten sie etwa von einer förmlich springenden Kamera und teilweise klaustrophobisch wirkenden Bildausschnitten ausgiebig Gebrauch. Besaß „Das Kind“ eine im Vergleich zu ihren früheren Filmen „Rosetta“ (1999) und „"Der Sohn" (2002) weitaus konventionellere Erzählstruktur, so erzählte darin das belgische Regisseurduo erneut von Außenseitern im postindustriellen Belgien.

Obwohl in „Der Junge mit dem Fahrrad“ („Le gamin au velo“) erstmals in einem Dardennee-Film ein Kind die Hauptrolle spielt, sind sich Jean-Pierre und Luc Dardenne ihrem Grundsatz treu geblieben, authentische Menschen aus einfachen Verhältnissen in den Mittelpunkt ihrer Filme zu stellen: Der zwölfjährige Cyril (Thomas Doret) hat nur einen Wunsch, seinen Vater wiederzufinden, der ihn in einem Kinderheim untergebracht hat. Seine Versuche, ihn zu finden, bleiben erfolglos, weil der Vater (Jérémie Renier) aus der Wohnung ausgezogen ist, ohne Cyril seine neue Adresse mitzuteilen. Darüber hinaus hat er Cyrils geliebtes Fahrrad einfach verkauft. Vom Verbleib der Mutter erfährt der Zuschauer indes nichts. Eher zufällig tritt in Cyrils Leben die Friseurin Samantha (Cécile de France), die sich des Jungen annimmt. Sie kauft nicht nur das Fahrrad zurück, sondern erklärt sich auch bereit, dass der Junge bei ihr die Wochenenden verbringt. Nach und nach übernimmt Samantha die Rolle von Cyrils Ersatzmutter und versucht, den Jungen vom Umgang mit einem Kleinkriminellen abzuhalten.

In „Der Junge mit dem Fahrrad“ trägt zwar mit Cécile de France eine bekannte Schauspielerin dazu bei, dass die sich durch die früheren Dardenne-Filme ziehende halbdokumentarische Anmutung zurückgedrängt wird. Die besonders am Anfang sehr unmittelbare, teilweise entfesselte Handkamera von Alain Marcoen erinnert jedoch an frühere Filme der Dardenne-Brüder. Zur Inszenierung gehört ebenfalls ein elliptisches Erzählen, das wiederum insbesondere zu Beginn des Filmes zu beobachten ist. Die unruhige Handkamera und der sprunghafte Schnitt spiegeln Cyrils innere Unruhe, seine verzweifelte Suche nach dem Vater wider.

Durchlebte in „Das Kind“ der junge Protagonist einen Läuterungsprozess, der dem Film eine humanistische Tiefe verlieh, wie sie im heutigen Kino selten geworden ist, so erfuhr ebenfalls die Protagonistin im letzten Dardenne-Film „Lornas Schweigen“ (siehe Filmarchiv) eine Katharsis. In „Der Junge mit dem Fahrrad“ stellt sich Samantha als die herzensgute Frau heraus, die uneigennützig die Lieblosigkeit von Cyrils Vater wieder gutmacht. Dazu erläutert die Jury der evangelischen Filmarbeit bei der Wahl von „Der Junge mit dem Fahrrad“ zum „Film des Monats“: „Samanthas Fürsorge ist ein elementarer humaner Impuls, dem sie folgt, ohne dass dies psychologisch erklärt wird. Ein von seinem Vater verlassener Junge findet Zuwendung dort, wo er sie gar nicht erwartet hat, bei einer Fremden, deren Menschlichkeit im Kontrast wie aus dem Märchen – oder dem Kino erscheint. Wenn der Film der Verlässlichkeit familiärer Bindungen misstraut, so will er dennoch keine Welt ohne Hoffnung zeichnen.“

„Der Junge mit dem Fahrrad“ ist ein Loblied auf die Liebe und Geborgenheit, die jedes Kind sucht. Jean-Pierre Dardenne: „Unsere Gesellschaft huldigt dem Kult des Individuums. Vielleicht ist es als eine Reaktion darauf zu verstehen, wenn wir immer wieder das Thema menschlicher Bindungen aufgreifen.“ Ohne in Rührseligkeit zu verfallen, berührt der Film durch Cyrils rastlose Suche nach Liebe sowie durch Samanthas selbstlose Haltung den Zuschauer. Die menschliche Wärme und Zuwendung, die sie dem Jungen schenkt, korrespondiert mit den warmen Farben des Sommers – Jean-Pierre und Luc Dardenne haben erstmals einen Film im Sommer gedreht – sowie mit der Musik, was für das belgische Regisseurduo ebenfalls eine Premiere darstellt. Denn mit Ausnahme des Nachspanns in „Lornas Schweigen“ verzichteten sie stets auf jegliche Filmmusik. In ihrem neuen Film sind immer wieder ein paar Takte aus dem zweiten Satz von Beethovens fünftem Klavierkonzert zu hören.

Bei aller filmischer Kunstfertigkeit, die in der scheinbaren Schlichtheit der Inszenierung liegt, ragt das ausgezeichnete Schauspiel der Darsteller heraus: Nicht nur überzeugt die in Belgien geborene, vor allem in Frankreich bekannte Cécile de France, sondern insbesondere auch der erst zwölfjährige Thomas Doret, der bislang keinerlei Filmerfahrung hatte. Sein wild entschlossener Blick spiegelt die hartnäckige Verzweiflung bei der Suche nach dem Vater wider. „Der Junge mit dem Fahrrad“ gewann auf den Filmfestspielen in Cannes den großen Preis der Jury und eröffnete anschließend das Filmfest München.
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