THOMANER. DIE | Die Thomaner
Filmische Qualität:   
Regie: Paul Smaczny, Günter Atteln
Darsteller: (Mitwirkende) Georg Christoph Biller, Thomanerchor, Gewandhausorchester
Land, Jahr: Deutschland 2011
Laufzeit: 114 Minuten
Genre: Dokumentation
Publikum:
Einschränkungen: --
im Kino: 2/2012
Auf DVD: 9/2012


José García
Foto: NFP

Der im Jahre 1212 gegründete Thomanerchor Leipzig, dessen berühmtester Kantor Johann Sebastian Bach war, feiert dieses Jahr seinen 800. Geburtstag. Aus Anlass des Jahrhundertjubiläums haben die Filmemacher Paul Smaczny und Günter Atteln erstmalig einen abendfüllenden Dokumentarfilm über den Thomanerchor gedreht. Statt etwa einen Überblick über die Chor-Geschichte zu geben, konzentrieren sich die Filmemacher auf das Lebensgefühl heutiger Thomaner sowie auf deren Motivation, sich um der Musik willen einem streng reglementierten Internat-Leben zu unterwerfen. Darüber hinaus steht im Mittelpunkt des Dokumentarfilmes die Wertevermittlung in einem Erziehungskonzept mit einigen Alleinstellungsmerkmalen, etwa der Tatsache, dass sich die Älteren um die Betreuung der Jüngeren aktiv kümmern, und dass Kinder und Jugendliche altersgemischt auf den Stuben leben.

Den äußeren Rahmen bildet ein ganzes Schuljahr – von der Aufnahmeprüfung und der Verabschiedung einer Abiturientenklasse im Sommer 2010 bis zum Ende des Chorjahres im Sommer 2011. Dies unterstreicht die Kontinuität des Thomanerchors, insbesondere auch weil die Filmemacher Anfang und Ende eines Zyklus spiegelbildlich darstellen: Lernt zu Beginn der Zuschauer einen Abiturienten kurz kennen, so konzentriert sich die Kamera auf die Neuankömmlinge. Auf die Verabschiedung der Abiturienten folgt die Begrüßung der Neuen, wobei die Blumenniederlegung auf Johann Sebastian Bachs Grabplatte eine quasi rituelle Stellung einnimmt. In einem kurzen Interview erklärt beispielsweise der 9-jährige Johannes: „Das war schon immer mein Ziel“. Auch Johannes’ Mutter kommt zu Wort, um ihre gemischten Gefühle auszudrücken: Es sei, als würde sie „ihr Kind abgeben“. Am Filmende ist der Schwerpunkt umgekehrt: Sieht der Zuschauer die Neuen lediglich ins Internat einziehen, so verbleibt die Kamera bei den Abiturienten länger.

Statt einer Off-Stimme greifen die Regisseure Paul Smaczny und Günter Atteln auf Interviews oder auch auf einen verlesenen Text zurück. Interviewt werden Thomaner aller Altersstufen: Nicht nur die ganz Kleinen, sondern auch die erfahrenen „Präfekten“, die sich um die Jüngeren kümmern, darunter der 17-jährige Sebastian, genant „Muckse“, der als Erster Präfekt bereits Proben selbstständig leitet. Ein Glücksfall für die Filmemacher ist insbesondere der redegewandte Oskar, der mit seinen 15 Jahren nicht nur zu den Erfahrenen gehört, sondern auch sehr sympathisch wirkt – womit er auch bei den Mädchen gut ankommt, wie der Film unterstreicht. Darüber hinaus kommen auch die Erwachsenen zu Wort, von Kathleen-Christina Kormann, Rektorin der „Thomasschule“ über den pädagogischen Leiter Roland Weise und den Pfarrer der Thomaskirche Christian Wolff bis zum Thomaskantor Georg Christoph Biller. Als Dirigent übernimmt Georg Christoph Biller, seit 1992 Leiter des Thomanerchors, im Film nach und nach die Hauptrolle. Der Zuschauer lernt ihn jovial im Chorlager Nebra am Anfang des Chorjahres, aber auch als geduldiger Chorleiter kennen, dem allerdings hin und wieder der Geduldsfaden reißt, sowie als Dirigent bei den großen Konzerten.

Für die Dramaturgie des Dokumentarfilms stellt sich der Umbau der Schule während der Dreharbeiten als ein Segen heraus, nicht nur weil dies Abwechselung bringt. Der Umzug ins sogenannte „Interim“ erlaubt den Filmemachern außerdem, auf das Internatskonzept näher einzugehen. Dazu führt Paul Smaczny aus: „Wir hatten Glück, denn genau in dieser Zeit fand der Umzug des Chores aus dem ‚Kasten’ in ein Interim aus einem Containerbau statt. Die damit verbundene neue Konzeption für die Stuben und Schlafräume sind Teil der aktuellen Umbruchsphase des Chors, die wir hautnah miterleben durften.“ Zur Abwechslung sorgt nicht nur der Jahreszeitenwechsel, sondern insbesondere auch eine große Konzertreise nach Sao Paulo, Montevideo und Buenos Aires, wo die Kamera zur Ruhe kommt und Ausschnitte aus den Konzerten zeigt.

Die Feier der großen Feste stellt darüber hinaus einen Höhepunkt in „Die Thomaner“ dar. Das gemeinsame Feiern am Heilig Abend, mit Gottesdienst und der darauffolgenden Bescherung im „Kasten“ gehört dazu ebenso wie die Passionszeit. In diesem Zusammenhang erläutert der Film nicht nur das auf Wertevermittlung hinzielende Erziehungssystem der Thomaner, sondern auch die Stellung des Glaubens in einem Chor, der hauptsächlich zur Ehre Gottes singt. Laut Georg Christoph Biller wird deshalb bei der Aufnahmeprüfung besonders den Eltern die „Gretchenfrage“ gestellt. In einer Zeit, in der die Hälfte der Thomaner aus nicht christlichen Elternhäusern kommt, müsse die Verankerung des Chors im Glauben deutlich bleiben. Die in der Musik immer wieder zum Ausdruck kommende Verbindung zu Gott führe dazu, so Biller, dass sich viele Thomaner aus nichtgläubigen Elternhäusern in ihrer Chorzeit taufen lassen.

Obwohl der Zuschauer gerne mehr über den sozialen Hintergrund der Thomaner erfahren hätte, bieten Paul Smaczny und Günter Atteln mit vielen Mosaiksteinen im Dokumentarfilm „Die Thomaner“ ein eindrückliches Bild des traditionsreichen Chors aus Leipzig.
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