CINEMA JENIN | Cinema Jenin
Filmische Qualität:   
Regie: Marcus Vetter
Darsteller:
Land, Jahr: Deutschland / Israel 2012
Laufzeit: 106 Minuten
Genre: Dokumentation
Publikum: ab 6 Jahren
Einschränkungen: --
im Kino: 6/2012
Auf DVD: 12/2012


José García
Foto: Senator

Der deutsche Regisseur Marcus Vetter ist mit der palästinensischen Stadt Jenin seit mehr als fünf Jahren verbunden. Als der Filmemacher erfuhr, dass der Palästinenser Ismail Khatib die Organe seines von einem israelischen Soldaten 12-jährig getöteten Sohn Ahmed an Kinder in Israel gespendet hatte, drehte er darüber den bewegenden Dokumentarfilm „Das Herz von Jenin“ (siehe Filmarchiv), der 2010 den Deutschen Filmpreis gewann. Nachdem die israelische Witwe Yaël Armanet-Chernobroda, deren Mann Dov Chernobroda im März 2002 vom Selbstmordattentäter Shadi Tobassi in einem Tel Aviver Restaurant mit in den Tod gerissen wurde, den Film sah, reifte in ihr der Gedanke, Shadi Tobassis Eltern kennenzulernen. Über die Annährung zwischen der Witwe und den Eltern von Shadi, Um Amjad und Abo Amjad Tobassi, entstand unter der Regie von Jule Ott und Steffi Bürger, zwei Schülerinnen Marcus Vetters, der hochemotionale Dokumentarfilm „Nach der Stille“ (siehe Filmarchiv).

Nun ist Marcus Vetter wieder nach Jenin gefahren, um ein seit Jahrzehnten verlassene Kino wiederaufzubauen – und um den Wiederaufbau in einem weiteren Film zu dokumentieren: „Cinema Jenin“ stellt den Abschluss einer Trilogie dar, die insbesondere eines verdeutlicht: Dass Versöhnung ein Zusammenleben im Nahen Osten möglich machen kann.


Interview mit Marcus Vetter

Wie kamen Sie auf den Gedanken, das jahrzehntelang leerstehende und teilweise in Trümmern liegende Kino in Jenin wiederaufzubauen und einen Dokumentarfilm darüber zu drehen?

Nachdem ich „Das Herz von Jenin“ in der Rohschnitt-Fassung im Friedenstheater von Jenin gezeigt hatte, gingen Ismail Khatib und ich spazieren. Wir konnten uns erstmals abends frei bewegen, die Gefahr eines Einmarsches israelischer Soldaten war nicht mehr so groß wie früher. Eigentlich sollte dies unser Abschied für immer sein. Aber Ismail zeigte mir das Kino, das wie so viele andere im Palästina seit 1987 nicht mehr im Betrieb war. Gemeinsam kam uns die Schnapsidee, dieses Kino wiederaufzubauen. Was würde dies für die Jugendlichen bedeuten, die normalerweise versuchen, Panzer zu stoppen? Sie könnten dadurch einen neuen Sinn bekommen. Jenin galt als die Stadt des Terrorismus. „Das Herz von Jenin“ hat erstmals gezeigt, dass nicht alle Menschen so denken, dass es dort Menschen gibt wie Ismail oder auch wie Zacharia Zubeidi und der Mufti, die zustimmten, als Ismail die Organe seines getöteten Sohnes spendete. Ein Kino an diesem Ort könnte dazu führen, dass auch Israelis nach Jenin kommen, die dann zurückgehen und erzählen, was sie gesehen haben, dass sich in Jenin viele Menschen den Frieden wünschen.

Aber dürfen Israelis überhaupt nach Jenin reisen?

Eigentlich nicht. Wenn sie einreisen wollen, müssen sie ihr eigenes „Todesurteil“ unterschreiben: Sie müssen unterschreiben, dass sie bereit sind, eines ganz schrecklichen Todes zu sterben. Wenn sie dennoch kommen und die ganz normalen Menschen in Jenin sehen, denken sie vielleicht: Meine Regierung macht einen Fehler, wir werden von der Regierung manipuliert. Sie sollen in Israel offen erzählen, was sie in Jenin erleben.

Kann ein Kino so etwas wie Normalität schaffen?

Als 1948 in einem italienischen Dorf ein Kino wiederaufgebaut wurde, haben die Menschen richtig begriffen, dass der Zweite Weltkrieg zu Ende war. Nicht 1945, sondern drei Jahre später. Ein Kino gibt das Gefühl, dass der Kriegszustand aufgehört hat. Danach sehnen sich nach 30 oder 40 Jahren Krieg die Leute im Nahen Osten. Ein solches Kino könnte helfen, den Teufelskreis von Krieg und Gewalt zu durchbrechen.

Das Kino wurde im August 2010 eröffnet. Wie ist die jetzige Lage?

Als im April 2011 Juliano Mer-Khamis, der Gründer des Friedenstheaters Jenin, ermordet wurde, mussten wir alle Volontäre abziehen. Das Kino war verwaist, denn keiner wusste mit der Technik umzugehen. Deshalb hatten wir auch Probleme, in Deutschland weitere Mittel für das Projekt zu finden. Wir haben anderthalb Jahre gebraucht, um uns von diesem Schock zu erholen. Erst jetzt kommen die ersten, wenn auch wenigen Volontäre wieder zurück.

Wenn Cinema Jenin dann einen normalen Betrieb aufrechterhalten kann, wer wird dann der Betreiber sein?

Im Moment ist der Betreiber Dr. Lamei, der ehemalige Kinobesitzer. Das finde ich besonders wichtig, weil sein Vater das Kino gebaut hat. Dr. Lamei liebt das Kino, und er ist der einzige Hauptamtliche, der dafür kein Geld bekommt – die restlichen vier werden vom Auswärtigen Amt finanziert. Das zeigt, wie wichtig ihm dieses Projekt ist. Zurzeit sucht er einen künstlerischen Leiter und einen Verwaltungsdirektor. Diesen großen Betrieb einschließlich Gästehaus werden dann etwa zehn bis zwölf Mitarbeiter führen. Sie sollen das Kino als ihre langfristige Arbeitsstelle ansehen, damit sie es mit Liebe aufbauen. Wir rechnen, dass sich nach einem weiteren Jahr Anschubfinanzierung das Projekt selbst trägt.

„Cinema Jenin“ gehört nun zusammen mit „Das Herz von Jenin“ und „Nach der Stille“ zu einem Gesamtprojekt.

Es ist eine Trilogie geworden. „Nach der Stille“ ist für dieses Projekt sehr wichtig geworden. Denn darin erzählt ein palästinensischer Film von der anderen Seite – von einer israelischen Frau, die sich in Gefahr begibt, um die Hand zu reichen. Das ist für mich Kunst, Kultur im wahrsten Sinne des Wortes. „Das Herz von Jenin“ hatte einen palästinensischen Helden. Nun gibt es ein palästinensisches Projekt, das es einer israelischen Frau gestattet, Heldin eines Filmes zu sein. Deshalb gehören diese drei Filme zusammen, sie bilden eine Trilogie.

Der Film „Cinema Jenin“ erweckt den Eindruck, als sei er „cinéma verité“, als hätten Sie als Regisseur ohne Drehbuch gearbeitet, einfach die Kamera laufen lassen.

Wir hatten gar kein Drehbuch, lediglich ein kleines Exposé. Darüber hinaus wurde das Drehen auch immer unwichtiger, dafür das Projekt immer bedeutender. Beispielsweise musste ich den Tontechniker abziehen, damit er beim Bau des Kinos mithilft. „Cinema Jenin“ ist eigentlich im Schneideraum entstanden, denn wir hatten 350 Stunden Filmmaterial belichtet. Die Cutterin Saskia Metten musste aus diesem Material eine Geschichte formen. Sie hätte diese eine, hätte aber auch eine ganz andere Geschichte daraus schneiden können. Für ihre Leistung wurde sie vergangene Woche denn auch mit dem Deutschen Kamerapreis ausgezeichnet.
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