VERDINGBUB, DER | Der Verdingbub
Filmische Qualität:   
Regie: Markus Imboden
Darsteller: Max Hubacher, Katja Riemann, Stefan Kurt, Maximilian Simonischek, Miriam Stein, Lisa Brand, Andreas Matti, Heidy Forster, Ursina Lardi, Ernst C. Sigrist, Martin Hug
Land, Jahr: Schweiz 2011
Laufzeit: 103 Minuten
Genre: Dramen
Publikum: ab 16 Jahren
Einschränkungen: X
im Kino: 10/2012
Auf DVD: 4/2013


José García
Foto: Ascot

Die Schweiz um 1950. Auf einem Bauernhof inmitten einer verschneiten Landschaft wird ein kleiner Sarg auf einen vom Pferd gezogenen Karren gehievt. Nach einem scharfen Schnitt folgt ein Blick in den Schlafsaal eines Waisenhauses: Der zwölfjährige Max (Max Hubacher) soll schnell seine Sachen packen. Denn der Pfarrer (Andreas Matti) wartet bereits, um ihn auf den Bauernhof der Bösigers zu verdingen – auf denselben Bauernhof, von dem eingangs das tote Kind weggetragen wurde. Erhofft sich Max dadurch endlich eine Familie, in der er Liebe und Zuneigung empfinden kann, so sehen der trinksüchtige Bauer (Stefan Kurt) und seine Frau (Katja Riemann) in ihm lediglich eine Arbeitskraft, ja so etwas wie einen Leibeigenen. Gehen auf dem Bösinger-Hof alle ruppig miteinander um, so wird Max von allen, auch vom Bösinger-Sohn Jakob (Max Simonischek), misshandelt. Als die 15-jährige Berteli (Lisa Brand) ebenfalls als Verdingkind auf den Hof kommt, spannt sich für Max zunächst einmal die Lage an, einerseits weil das Mädchen von Frau Bösiger besser behandelt wird. Andererseits weckt Berteli aber auch Jakobs Begierde, wie dessen laszive Blicke unmissverständlich verdeutlichen.

Zwischen 1800 und 1950 wurden in der Schweiz Waisen-, Scheidungs- und uneheliche Kinder Bauern als sklavenähnliche Arbeitskräfte angeboten. Bis Anfang des 20. Jahrhunderts fanden auf Verdingmärkten regelrechte Versteigerungen statt, so die Internet-Plattform „netzwerk-verdingt.ch“: „Die Kinder wurden am Dinget unter den Bauern versteigert – aber nicht an den Meistbietenden, sondern an jenen, der am wenigsten bot“, weil die Heimatgemeinde des Verdingkindes dem aufnehmenden Bauern ein Kostgeld bezahlen musste. Deshalb setzt Regisseur Markus Imboden an den Anfang seines Spielfilmes „Der Verdingbub“ die Schrifttafel „Basierend auf 100.000 wahren Geschichten“. Die Verding- oder Kostkinder wurden nicht selten ausgebeutet, misshandelt und auch missbraucht. „Gerade in Fällen von Gewalt und Schändung wären Vormund und Behörden verpflichtet gewesen einzuschreiten, taten es aber nur äußerst selten“, stellt „netzwerk-verdingt.ch“ fest.

Dass diese Misshandlungen nicht verborgen bleiben konnten, veranschaulichen die Drehbuchautoren Plinio Bachmann und Jasmine Hoch anhand der jungen Lehrerin Esther (Miriam Stein), die in der Emmentaler Gemeinde ihre erste Stelle antritt. Ihre Versuche, den Pfarrer und den Gemeindevorsteher auf die Missstände hinzuweisen, scheitern. Ihr Einschreiten verschlimmert sogar die Situation von Max und Berteli. Letztlich muss sie sogar die Schule verlassen. Dennoch: Sie bestärkt Max in seiner Leidenschaft für die Handorgel, was wiederum seine Selbstachtung steigert. Als der Bub bei der Lehrerin im Radio einen argentinischen Tango hört, beschließt Max, nach Argentinien auszuwandern. Mit Berteli träumt er von einem besseren Leben in einem Land, in dem es keine Verdingkinder gibt.

Zwar fängt die Kamera von Peter von Haller die Schweizer Berglandschaft in wunderbaren Bildern ein. Sie bleibt jedoch den Figuren stets so nah, dass die historische Distanz aufgehoben wird. Durch die geradlinige, schnörkellose Erzählung konzentriert sich Imbodens Film auf die Charaktere. „Der Verdingbub“ ist vor allem ein Schauspielerfilm: Obwohl sich etwa die schlechten Zähne der Bäuerin zu ausgestellt ausnehmen, verkörpert Katja Riemann ihre Figur mit einer ausgewogenen Mischung aus Frust und Hilflosigkeit. Zwar spielt sie eine ihrem Image völlig entgegen gesetzte Figur, Katja Riemann wirkt jedoch völlig glaubwürdig als Frau, die im Grunde ein gutes Herz hat, die aber ein entbehrungsreiches Leben verhärmt, ja verbittert hat. Stefan Kurt gestaltet den Bauern ebenso als gescheiterte, dem harten Leben auf dem Bauernhof kaum gewachsene Existenz. Obwohl er anfangs für Max fast so etwas wie eine Ersatzvaterstelle einnimmt, flüchtet sich der Bauer in die Trinksucht. Trotz der starken Vorstellung durch die erwachsenen Schauspieler brillieren in „Der Verdingbub“ besonders die 18-jährigen Lisa Brand und Max Hubacher. Bertelis Liebe zur eigenen Mutter, der sie von den Behörden entrissen wird, hinterlässt in ihr eine offene Wunde, der ihr stets anzumerken ist. Die anfängliche Feindseligkeit des Verdingbuben erträgt sie mit Geduld, bis die beiden in ihrem gemeinsamen Schicksal ein starkes Band entdecken. Vor allem aber Max Hubacher gelingt vor allem durch seine Körpersprache und seine Mimik eine herausragende Vorstellung. Allen Schicksalsschlägen, allen enttäuschten Hoffnungen zum Trotz behält der„Verdingbub“ seinen unbedingten Lebensmut, der ihn letztlich das Überleben ermöglicht.

Mit ihren differenzierten Figuren entgehen die Filmemacher der Versuchung, die himmelschreiende Ungerechtigkeit und die Ohnmacht, die den ganzen Film durchziehen, in ein schwarzweißes Gut-Böse-Schema zu pressen. Dadurch hilft auch der Film dieses menschenverachtende System der Verdingkinder, insbesondere aber auch zu verstehen, dass der Mangel an Liebe und Zuneigung letztlich Enttäuschung, Frust und Gewalt hervorruft.
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