SCHULD SIND IMMER DIE ANDEREN | Schuld sind immer die anderen
Filmische Qualität:   
Regie: Lars-Gunnar Lotz
Darsteller: Edin Hasanovic, Julia Brendler, Pit Bukowski, Marc Benjamin Puch, Natalia Rudziewicz, Aram Arami
Land, Jahr: Deutschland 2012
Laufzeit: 92 Minuten
Genre: Dramen
Publikum: ab 16 Jahren
Einschränkungen: G
im Kino: 2/2013
Auf DVD: 1/2014


José García
Foto: alpha medienkontor

Am Anfang steht eine brutale Tat: Zwei Jugendliche steigen in einer Unterführung bei einer Frau ins Auto ein, zwingen sie, zu einem Geldautomaten zu fahren und ihr Konto leerzuräumen. Anschließend schlägt einer von ihnen die wehrlose Frau gnadenlos zusammen, ehe die Täter verschwinden. Nach einer Schwarzblende wird Ben (Edin Hasanovic) in eine Jugendstrafanstalt eingeliefert. An der Stimme erkennt der Zuschauer, dass er der Täter des rabiaten Angriffs auf die Frau gewesen ist. Im Jugendknast geht es nicht minder brutal zu, und so wird auf dem Gefängnishof Bens Gesicht von zwei Mitinsassen böse zugerichtet. Obwohl Ben gar keine Reue empfindet, sondern sie für „Gefühle und so ’nen Schwuchtelkram“ hält, bietet ihm Sozialarbeiter Niklas (Marc Ben Puch) in Form von freiem Vollzug eine zweite Chance an, die der jugendliche Straftäter nach einigem Zögern aufgreift.

Im abgelegenen „Waldhaus“ gibt es weder Zäune noch Mauern, dafür aber einen straffen Tagesablauf und eine ganze Reihe Regeln, etwa „kein Fluchen“ und „kein Körperkontakt“. Die dort lebenden sieben Jugendlichen sollen in dieser familiären Gemeinschaft soziale Kompetenzen erlernen. Sie können sich durch ein Bewertungssystem in der Hierarchie nach oben arbeiten. Bens Zimmernachbar Tobi (Pit Bukowski) soll den Neuling gleichzeitig anleitet und überwachen. Zunächst widersetzt sich Ben den Regeln, wo er nur kann. Als aber einer aus der Gruppe nach einem aggressiven Ausbruch ins Gefängnis zurückgeschickt wird, sieht Ben ein, dass er sich fügen muss. Denn in den Knast will er auf gar keinen Fall mehr. Allmählich lebt sich Ben in das Sozialprojekt ein. Der entscheidende Wendepunkt kommt, als Niklas’ Frau Eva (Julia Brendler) nach längerer Abwesenheit ins „Waldhaus“ zurückkehrt. Denn in ihr erkennt Ben das Opfer, dem er brutal in den Bauch getreten hatte. Der Junge ist wie vom Blitz getroffen. Erkannt hat sie ihn zwar nicht, weil der Fall nie aufgeklärt wurde. Aber nach und nach steigt in Eva der Verdacht auf, dass es sich bei Ben um ihren Peiniger handeln muss. Und damit kehrt eine besonders schmerzhafte Erinnerung zurück, weil Eva bei diesem Überfall ihr ungeborenes Kind verlor. Eigentlich ist sie davon überzeugt, dass Opfer verzeihen können, wenn Täter echte Reue zeigen. Bezeichnend in diesem Zusammenhang ist, dass sie und ihr Mann Niklas bei einer Sitzung mit dem Jugendlichen zur Erläuterung der Vergebung das Titelbild eines Magazins von 1984 einsetzen, das Johannes Paul II. mit seinem Attentäter Mehmet Ali Agca zeigt. Als sich jedoch Eva mit ihrem Peiniger konfrontiert sieht, gerät diese tiefe Überzeugung ins Wanken.

Das Drehbuch von Anna-Maria Prassler ist zwar nicht frei von Ungereimtheiten. Dass sich Opfer und Täter ausgerechnet im abgelegenen „Waldhaus“ begegnen, erscheint nicht besonders plausibel, auch wenn sich der Film in einer Kleinstadt abspielt. Erweist sich darüber hinaus die klischeehafte Liebesgeschichte zwischen Ben und „Waldhaus“-Praktikantin Mariana (Natalia Rudziewicz) als völlig überflüssig, so bleibt der skizzierte Konflikt zwischen Ben und seinem „Aufpasser“ Tobi kaum in Ansätzen stehen. In seinem Langfilmdebüt schafft der österreichische Regisseur Lars-Gunnar Lotz dennoch eine spannungsgeladene Atmosphäre dank einer sensiblen Kameraführung und vor allem dank des intensiven Spiels der Hauptsdarsteller Edin Hasanovic und Julia Brendler, das am besten wirkt, wenn die beiden Schauspieler lediglich mit Blicken arbeiten, sich ohne überflüssige Dialoge gegenüberstehen. Lässt Edin Hasanovic den Zuschauer Bens Schuldgefühle, die ihn immer mehr beschleichen, regelrecht physisch empfinden, während er von Eva nach und nach in die Ecke gedrängt wird, so gestaltet Julia Brendler ihre Eva als eine Frau, die zwischen dem hohen Anspruch zu verzeihen und den traumatischen Empfindungen gegenüber ihrem Peiniger immer mehr zerrissen ist. Dass Drehbuchautorin Anna-Maria Prassler und Regisseur Lars-Gunnar Lotz kein Patentrezept, kein konstruiertes Happy End anbieten, gehört zu den Stärken von „Schuld sind immer die anderen“.

„Schuld sind immer die anderen“ hätte leicht zur sterilen soziologischen Versuchsanordnung verkommen können. Dass dies nicht der Fall ist, verdankt der Film nicht nur dem Leben, das die Darsteller ihren Figuren einflößen, sondern auch einer Regie, die sich trotz der erwähnten Drehbuchschwächen auf das Wesentliche im zwischenmenschlichen Bereich konzentriert. So erzählt „Schuld sind immer die anderen“ eine sowohl aufwühlende wie auch spannend entwickelte Geschichte, die sich immer eindeutiger auf die Frage nach Schuld und Sühne, aber auch nach den Voraussetzungen für eine wirkliche Vergebung konzentriert.

„Schuld sind immer die anderen“ erhielt mehrere Filmpreise. So wurde der Film auf dem Film Festival Cottbus als „Bester Jugendfilm“ ausgezeichnet. Auf dem Internationalen Filmfest Emden gewann er darüber hinaus den Bernhard-Wicki-Preis für den besten Kinofilm, den NDR-Filmpreis für den Nachwuchs und den DGB-Filmpreis.
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