ENDSTATION SEESHAUPT – EINE REISE DURCH OBERBAYERN 1945 – 2010 | Endstation Seeshaupt
Filmische Qualität:   
Regie: Water Steffen
Darsteller: (Mitwirkende): Louis Sneh, Max Mannheimer, Uri Charom, Edwin Hamberger, Herbert Reich, Franz Haider, Hans Steinbiegler, Hans Niedermayer
Land, Jahr: Deutschland 2010
Laufzeit: 94 Minuten
Genre: Dokumentation
Publikum: ab 12 Jahren
Einschränkungen: --
Auf DVD: 4/2013


José García
Foto: Konzept+Dialog

Ein etwa 80-jähriger Mann steigt am Bahnhof Seeshaupt aus dem Zug. Louis Sneh kann sich erinnern, „als wäre es gestern“, wie er hier als 17-Jähriger am 30. April 1945 von amerikanischen Truppen befreit wurde. Das sei sein zweiter Geburtstag gewesen, weshalb Louis Sneh seit Anfang der sechziger Jahre aus Santa Monica/Kalifornien jedes Jahr nach Seeshaupt reist, um am Bahn¬hof sei¬nen zwei¬ten Geburts¬tag zu fei¬ern. In all den Jahren hat er auf Hunderten von Dias unterschiedliche Perspektiven des Bildes festgenommen, das sich in seine Seele unauslöschlich eingebrannt hat. Dokumentarfilmer Walter Steffen, der zuletzt mit „München in Indien“ (siehe Filmarchiv) im Kino vertreten war, hat Louis Sneh auf derselben Strecke begleitet, die er zusammen mit etwa 4 000 KZ-Häftlingen in den letzten Apriltagen des Jahres 1945 zurücklegte. Diese Reise bildet das Rückgrat des Dokumentarfilms „Seeshaupt – Eine Reise durch Oberbayern 1945–2010“, der im April 2011 in einigen oberbayerischen Kinos lief und nun auf DVD veröffentlicht wird.

Louis Sneh wurde als 16-Jähriger nach dem deutschen Einmarsch in Ungarn im März 1944 zusammen mit seinen Eltern nach Auschwitz deportiert. Von dort aus kam er zunächst erst in das KZ Dachau, anschließend in das Außenlager Mühldorf–Mettenheim, wo er zusammen mit 8 000 jüdischen Gefangenen in einem halb unterirdischen Rüstungsbetrieb der Firma Messerschmitt arbeiten musste. „Endstation Seeshaupt“ kontrastiert die schwarzweißen Original-Aufnahmen der Rüstungsfabrik mit den heutigen Farbbildern der Ruine. Snehs Mutter wurde in Auschwitz ermordet, sein Vater starb während eines Todesmarschs. Denn mit dem Herannahen der Alliierten erließ Heinrich Himmler den Befehl: „Kein KZ-Insasse darf lebend in die Hände des Feindes fallen“. So wurden im April 1945 Hunderttausende KZ-Häftlinge in Marsch gesetzt. Es waren die berüchtigten „Todesmärsche“. Deren Name rührt daher, dass viele an Hunger und Erschöpfung starben oder von den SS-Wachmannschaften erschossen wurden. In Walter Steffens Film sind auch Bilder von einem solchen „Todesmarsch“ zu sehen, auf dem etwa 7 000 – 8 000 Menschen aus Dachau kamen.

Louis Sneh stand jedoch ein anderes Schicksal bevor. Ende April 1945 wurden im Zuge der Räumung des Konzentrationslagers Mühldorf- Mettenheim 4 000 KZ-Häftlinge in einen Zug gesperrt. Fünf Tage lang fuhr er quer durch Oberbayern, stoppte in Poing, München, Beuerberg, wo die Häftlinge nur notdürftig versorgt wurden, denn von den SS-Wachmännern erhielten die Gefangenen weder Wasser noch Verpflegung. Viele der körperlich geschwächten Menschen kommen dabei ums Leben. Als die „Freiheitsaktion Bayern“ über das Radio den Sieg über den Nationalsozialismus ankündigt, flieht die Wachmannschaft bei einem Zwischenstopp in Poing. Sie kehrt jedoch zurück, um die Häftlinge wieder in den Zug zu treiben. Am Münchner Südbahnhof werden die Waggongs auf zwei nun unabhängig voneinander fahrende Züge aufgeteilt. Max Mannheimer fuhr in diesem anderen Zug. Auch er kommt in „Endstation Seeshaupt“ zu Wort – Walter Steffen begleitet ihn bei einem Besuch in einer Schule, wo er den Schülern einschärft: „Ihr seid nicht verantwortlich für das, was geschah, aber für das, was in der Zukunft geschieht.“

In ruhigen Einstellungen fängt die Kamera von Christoph Ißmayer die Stationen des „Todeszugs“ ein. Die Aussagen von Louis Sneh und Max Mannheimer werden von den Beobachtungen der Anwohner der Orte ergänzt, an denen der Zug anhielt. So erinnert sich Herbert Reich, dass er als 7-Jähriger am 29. April aus dem in Tutzing stehenden Zug gequälte menschliche Laute zu hören bekam. „Ich wusste nicht, was da dahintersteckt, aber dass es was Böses war, das hat man gefühlt, selbst als Kind.“ Über die Erinnerung der Anwohner schlägt der Dokumentarfilm einen Bogen zu den Mahnmalen, die an verschiedenen Orten der Eisenbahnstrecke ab den 80er Jahren errichtet wurden, so etwa das in Seeshaupt von Jörg Kicherer Geschaffene oder die „Todesmarsch“-Plastik von Hubertus von Pilgrim, die vielerorts – darunter in Yad Vaschem – aufgestellt wurde. Hans Niedermayer, der Initiator des Mahnmals in Poing sagt dazu: „Geschichte kann man besser verstehen, wenn man von lokalem Geschehen ausgeht“. Die Sicht, die „Endstation Seeshaupt“ aus naheliegenden Gründen nicht bietet, ist jedoch die der Täter. Die SS-Wachsoldaten erhalten kein Gesicht.

Diese flohen und – wie Augenzeugen im Film berichten – rissen sich die Uniform vom Leib, als die Alliierten in Sicht kamen. Die amerikanischen Soldaten machten erschütternde Bilder von der Befreiung, die der Dokumentarfilm teilweise zeigt. Der amerikanische Befehlshaber war so ergriffen, dass er von jedem Haushalt der Stadt eine Person zum Bahnhof beorderte: Sie sollten die toten und die überlebenden KZ-Häftlinge mit eigenen Augen sehen. Angesichts des bestürzenden Bildes, das sich ihnen bot, haben viele erst dann mit dem Naziregime endgültig gebrochen. Sie verstanden wohl, was Isa Vermehren in ihrem 1946 erschienenen Erlebnisbuch „Reise durch den letzten Akt“ beschreibt: „Der dichte Vorhang, so schien es, den die vergangenen zwölf Jahre vor dieses Land gespannt hatten, war endlich gefallen, und es lag offen zutage, was sich Entsetzliches dahinter abgespielt hatte.“
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