NO PLACE ON EARTH – KEIN PLATZ ZUM LEBEN | No Place on Earth
Filmische Qualität:   
Regie: Janet Tobias
Darsteller: Christopher Nicola, Katalin Lábán, Balázs Péter Kiss, Dániel Hegedüs, Balázs Barna Hídvégi, Fruzsina Pelikán, Orosz András, Mira Bonelli, Nóra Kóvacs
Land, Jahr: USA / Großbritannien / Deutschland 2012
Laufzeit: 86 Minuten
Genre: Dokumentation
Publikum: ab 12 Jahren
Einschränkungen: --
im Kino: 5/2013
Auf DVD: 9/2013


José García
Foto: Senator

Der New Yorker Höhlenspezialist Christopher Nicola reiste im Jahre 1993 in die westliche Ukraine. Die Öffnung nach dem Fall des „Eisernen Vorgangs“ bot ihm die Möglichkeit, dort über seine Vorfahren zu forschen. In einer der längsten Höhlen Europas, der 123 Kilometer langen Gipskarsthöhle „Priestergrotte“ entdeckt Nicola Gegenstände wie Knöpfe, Schuhe und Medizinfläschchen. „Jede Höhle hat ein Geheimnis:“ Mit diesen Worten eines Off-Kommentars hatte der Dokumentarfilm von Janet Tobias „No Place on Earth – Kein Platz zum Leben“ begonnen. Das Geheimnis der „Priestergrotte“ kann Nicola nach jahrelangen Recherchen herausfinden: Hier versteckten sich während der deutschen Besetzung im Zweiten Weltkrieg fünf jüdische Großfamilien, um dem Zugriff der SS und der Gestapo zu entkommen.
Schwarz-Weiß-Originalaufnahmen zeigen das westukrainische Dorf Korolowka am Vorabend des Zweiten Weltkriegs, in dem neben Polen und Ukrainern auch Juden lebten. Aus der ganzen Ukraine kamen etwa 1,5 Millionen Juden ins Konzentrationslager. Fast alle wurden dort ermordet. Esther Stermer, aus deren Memoiren „No Place on Earth – Kein Platz zum Leben“ zitiert, entschied, alles zu unternehmen, um nur nicht in ein KZ deportiert zu werden. Obwohl sie unter den Vorzeichen des nahenden Krieges bereits im September 1939 Haus und Hof verkauft hatte, um nach Kanada auszuwandern, wurden diese Pläne durch den Kriegsausbruch zunichte gemacht. Drei Jahre lang kann die Familie im Dorf überstehen. Als aber im Oktober 1942 alle Juden ins Ghetto müssen, entschließt sich Esther Stermer, sich mit ihrem Ehemann Zaida, ihren drei Söhnen Nissel, Saul und Sam, ihren drei Töchtern Hannah, Yetta und Henia sowie mit Henias Ehemann Fishel und deren zwei kleinen Töchtern Sonia und Sima zu verstecken, um der Verfolgung zu entkommen.
Mit einer Mischung aus Dokumentation von Nicolas Nachforschungen, Zeitdokumenten, Interviews mit den inzwischen hochbetagten Saul und Sam sowie mit Esther Stermers Enkelinnen Sonia und Sima, sowie in mit ungarischen Schauspielern nachgestellten Szenen, erzählt die US-amerikanische Regisseurin Janet Tobias diese wahrhaft unglaubliche Geschichte. In diesen Spielszenen erlebt der Zuschauer, wie sich die Familie von Ester Stermer zusammen mit vier anderen jüdischen Familien des Dorfes in die Verteba-Höhle begibt. Insgesamt sind es 28 Menschen, darunter auch Esthers Schwester Leiche Wexler und deren zwei Söhne Sol und Leo, die unter die Erde ziehen. Zunächst nehmen sich die Lebensumstände trotz der meist völligen Dunkelheit annehmbar aus, weil sie vorher Proviant, Holz, Öl, Kerzen, Lampen, Kerosin, Geschirr und sogar Bettzeug sowie Decken in die Höhle gebracht hatten. Die 28 Menschen richten sich in der Annahme ein, dass sie sich nur zwei Monate verstecken brauchen, ehe sie wieder ins Dorf zurückkehren könnten. Die älteren Männer leben noch im Dorf und schmuggeln nachts Lebensmittel in die Höhle.
Die Situation ändert sich schlagartig, als die Gestapo im April 1943 die Gruppe aufspürt. Obwohl fünf Personen gefangen werden, können die meisten über einen geheimen, zuvor selbst angelegten Fluchtweg entkommen. Die Gefangenen werden der ukrainischen Polizei überstellt, mit der ausdrücklichen Anweisung, alle zu erschießen. Die Männer der Stermer-Familie versuchen mit der ukrainischen Polizei zu verhandeln, damit sie ihre Angehörigen freilassen. Die Polizei verlangt Gold, benötigt allerdings auch Tote, die man den Deutschen als Beweis vorzeigen kann. Die Familie Stermer muss ein neues Versteck suchen. Nissel entdeckt den Eingang zur riesigen „Priestergrotte“. Obwohl die neue Höhle über eine unterirische Quelle mit klarem, sauberem Wasser verfügt, haben sie nichts mehr, da sie in der Verteba-Höhle alles zurücklassen mussten. Die Männer gehen immer wieder ins Dorf, um Lebensmittel zu organisieren. Sie schleppen sogar einen Mühlstein in die Höhle, der dort noch heute steht. Im unterirdischen Versteck bleiben sie bis April 1944. Insgesamt verbringen die Familie Stermer und die anderen Familien 511 Tage unter der Erde – der längste unterirdische Aufenthalt der Geschichte.
Zwar gelingt Regisseurin Janet Tobias die Verknüpfung der zwei Handlungsstränge nicht immer. So forscht etwa Christopher Nicola weiter, nachdem dem Zuschauer längst die Zusammenhänge bekannt sind. Mit ihren nachgestellten Szenen vermittelt die Regisseurin jedoch das Gefühl der beklemmenden Enge und vor allem der Dunkelheit. Entscheidend dazu trägt die Arbeit der vier Kameramänner César Charlone, Sean Kirby, Peter Simonite und Eduard Grau bei, der bereits in „Buried – Lebend begraben“ (2010) dieses klaustrophobische Gefühl erzeugt hatte. Das von ihnen eingefangene Spiel von Licht und Schatten sorgt für die Glaubwürdigkeit der Spielszenen. Die Kamera bleibt wegen der beengten Verhältnisse stets mitten in der Gruppe, sehr nah an den Menschen. Janet Tobias braucht keine Spannung künstlich zu erzeugen. Selbst die Entdeckung der Gruppe durch die Gestapo wird fast beiläufig erzählt. Spannung entsteht durch die Ahnung, dass jeder Gang aus der Höhle heraus, um im Dorf Essbares zu besorgen, oder gar um Holz zu hacken, lebensgefährlich ist. Als 67 Jahre später Christopher Nicola einige der Überlebenden in die Höhle führt, entfachen die schlicht aufgenommenen Bilder eine ungemein emotionale Kraft.
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