ORANIA | Orania
Filmische Qualität:   
Regie: Tobias Lindner
Darsteller: (Mitwirkende): Carol Boshoff, Baksteen, Johan, Christo, Willy
Land, Jahr: Deutschland 2013
Laufzeit: 98 Minuten
Genre: Dokumentation
Publikum: ab 12 Jahren
Einschränkungen: --
im Kino: 6/2013
Auf DVD: 10/2013


José García
Foto: Kinostar

Das Dorf Orania liegt mitten im südafrikanischen Hinterland in der Karoo-Wüste, auf halber Strecke zwischen Kapstadt und Johannesburg. Angeführt von Carol Boshoff, dem Schwiegersohn des früheren Ministerpräsidenten Hendrik Frensch Verwoerd, kauften dort im Dezember 1990 etwa 40 burische Familien den damals baufälligen, aus 170 Baracken bestehenden Ort, um wenige Monate nach dem Ende der Apartheid eine reine Afrikaaner-Siedlung aufzubauen. Inzwischen wohnen in Orania, das 2004 eine eigene Währung herausbrachte und über einen eigenen Radiosender verfügt, etwa 800 Einwohner. In Orania verbrachte der Berliner Regisseur Tobias Lindner drei Monate, um in seinem Dokumentarfilm „Orania“ das Leben im Dorf festzuhalten.

„Orania“ begleitet eine Familie, die in das Dorf einziehen möchte, in eine Art Vorstellungsgespräch. Zusammen mit ihr erfährt der Zuschauer dadurch einige der Grundregel der basisdemokratisch organisierten Gemeinde. An erster Stelle steht die Pflege der Afrikaaner-Kultur, etwa beim Singen ihrer Heimatlieder. Denn nur Afrikaans sprechende weiße Südafrikaner können sich in dem kleinen Ort niederlassen. Im Interview erklärt Carol Boshoff dazu, wenn ein Weißer in Südafrika schwarze Arbeiter beschäftige, dann würden deren Enkel das Land übernehmen und auch die Macht. Das soll in Orania nicht geschehen.
Tobias Lindners Dokumentarfilm kommt vollständig ohne Off-Kommentare aus. Er lässt unterschiedliche Menschen aus Orania zu Wort kommen, etwa auch den Sohn des Orania-Gründers, Carel Boshoff IV., ohne darüber ein Urteil zu fällen. Lindners Film begleitet Bewohner von Orania und solche, die es werden wollen, so den jungen Kleinkriminellen Baksteen, der von seiner Mutter nach Orania geschickt wurde, damit er hier ein neues Leben anfängt, oder den Busunternehmer Johan, der die Oranier in die nächsten Städte fahren möchte. Dass seine Unternehmung auf mehr Schwierigkeiten als gedacht stößt, lässt Schlüsse ziehen. Womöglich begeben sich Oranier nicht allzu gerne außerhalb der Siedlung. Nach Orania wiederum dürfen nur Weiße kommen. Regisseur Tobias Lindner verdeutlicht dies in einer Szene, als der schwarze Kiosk-Lieferant mit seinem Lkw am Dorftor Halt machen muss. „Ich beliefere den Kiosk seit zwanzig Jahren und habe gehört, dass es ein Schwimmbad gibt. Aber gesehen habe ich es noch nie.“ Stattdessen kommt Kioskbesitzer und Bademeister Willy aus dem Dorf heraus, um hier seine Bestellung entgegenzunehmen. Herzlich umarmt er seinen schwarzen Lieferanten. Für einen Rassisten würde sich Willy nie halten. Dennoch: „Weiße dürfen dort hinein. Auch fremde Weiße. Aber wenn Schwarze dort hingehen würden, wäre es Hausfriedensbruch. Das ist das einzige Problem“, so der Lkw-Fahrer.

Solch irritierende Momente schaffen einen Gegensatz zur Idylle, die „Orania“ als aus verschiedenen persönlichen Geschichten zusammengesetzten Gesamteindruck vermittelt. Denn Lindners Film zeigt eigentlich nur das Selbstverständnis der Menschen, die mit einem gewissen Pioniergeist die ehemals öde Landschaft bearbeiten, und sich dadurch einen Traum verwirklicht haben. Den Zusammenhalt der Gemeinde wird etwa durch die wiedergegebenen Ausschnitte eines Informationsfilms heraufbeschworen: In Orania wollen sie ihre eigene Sprache und Kultur pflegen. Bezeichnenderweise verlässt die Kamera ein einziges Mal die Siedlung, als die Jugendlichen Baksteen und Christo ins nächstgelegene Dorf zum Einkaufen fahren.

Der auf mehreren internationalen Festivals, darunter dem „Jozi Film Festival“ in Johannesburg als „Bester Dokumentarfilm“ ausgezeichnete Debütfilm schafft dank der ruhigen Einstellungen eine besondere Atmosphäre, in der stilisierte Bilder der schönen Landschaft Südafrikas mit intimen Einblicken in die Lebensumstände der Dorfbewohner Oranias verknüpft werden. Denn die Kamera kommt den Porträtierten stets sehr nahe. Dadurch, dass Tobias Lindner eine zurückgenommene beobachtende Haltung einnimmt, bietet er dem Zuschauer genügend Raum für Fragen über kulturelle Identität und die menschliche Natur. Dazu führt der Regisseur selbst aus: „Für mich funktioniert ein Dokumentarfilm über Orania nur dann, wenn er den Beobachtungen, die er macht, den nötigen Raum gibt, um sich auf die Protagonisten einzulassen – jenseits von einer unmittelbaren moralischen Bewertung des Geschehens. Anders als beim Investigativ-Journalismus trete ich als Filmemacher einen Schritt zurück und lasse die Worte der Oranier die Geschichte erzählen. Das ist für mich die geeignete Form, das umstrittene Thema und meine eigene innere Ambivalenz dazu in Bilder zu fassen.“

Ambivalent zeigt sich der Film in der wohl meist diskutierten Frage um die südafrikanische Siedlung: „Orania ist einer der wenigen Orte in Südafrika, in denen man als Afrikaaner nicht zwangsläufig in Kontakt mit den anderen Kulturen des Landes kommt. Natürlich zieht das Rassisten an. Ob das Konzept von Orania selbst rassistisch ist, ist eine komplexere Frage.“ Lindner selbst wertet nicht. Die behutsame Beobachtung seiner Protagonisten erlaubt ihm, die Motivationen der Menschen in Orania zu erforschen. Die Frage nach der Legitimität einer solchen Gesellschaftsform auf dem schmalen Grat zwischen kultureller Selbstbestimmung und der Ausgrenzung anderer könne und solle der Zuschauer am Ende selbst beantworten, sagt Tobias Lindner.
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