NONNE, DIE | La religieuse
Filmische Qualität:   
Regie: Guillaume Nicloux
Darsteller: Pauline Étienne, Isabelle Huppert, Martina Gedeck, Louise Bourgoin, Françoise Lebrun, Agathe Bonitzer, Alice de Lencquesaing, Gilles Cohen, Marc Barbé, François Négret
Land, Jahr: Frankreich / Deutschland / Belgien 2012
Laufzeit: 114 Minuten
Genre: Literatur-Verfilmungen
Publikum: Erwachsene
Einschränkungen: S, U
im Kino: 11/2013
Auf DVD: 4/2014


José García
Foto: Camino

„Die Nonne“ („La religieuse“) lautet der Titel eines im Jahre 1796 posthum erschienenen Romans von Denis Diderot (1713–1784), in dem Suzanne Simonin in Briefen ihre Lebensgeschichte erzählt. Weil ihren Eltern die für eine standesgemäße Heirat nötigen finanziellen Mittel fehlen, wird sie zum Eintritt in ein Kloster gezwungen, wohl auch als Sühne für die Sünde ihrer Mutter, weil sie als uneheliches Kind eines zeitweiligen Geliebten geboren wurde. Suzanne hasst das Klosterleben. Trotz aller Versuche einer verständnisvollen Oberin bleibt ihr Entschluss, aus dem Ordensleben auszubrechen, immer präsent. In drei Klöstern wird sie auf unterschiedliche Weise mit dem Machtmissbrauch der Oberinnen, mit physischen Qualen und mit aus religiösem Fanatismus entsprungener psychischer Grausamkeit konfrontiert. Diderot, der als Aufklärer schlechthin gilt, schrieb mit diesem Roman genauso wie mit seinen Artikeln für die „Encyclopédie“ gegen die katholische Kirche an. Mit der emotionalisierenden Kraft der Fiktion sollte die Kirche als Hort des Fanatismus angeprangert werden. So lässt etwa Oberin Sainte-Christine ihre sadistischen Triebe an Suzanne aus. Die Oberin wird von Diderot als „von kleinem Charakter und mit engstirnigem Kopf, der vom Aberglauben regiert wurde“, beschrieben.

Jacques Rivette verfilmte Diderots Roman im Jahre 1966 mit Anna Karina in der Hauptrolle. Der Film, der mit Suzannes Selbstmord endet, wurde nach seiner Uraufführung bei den Internationalen Filmfestspielen von Cannes im Mai 1966 mit der Begründung verboten: „‚Die Nonne’ verletzt die Gefühle und das Gewissen der katholischen Bevölkerung.“ Erst im Juli 1967 durfte der Film im Kino offiziell starten.

Nun legt der 1966 geborene französische Regisseur Guillaume Nicloux eine Neuverfilmung von Diderots aufklärerischem Roman vor, in der im Gegensatz zu Diderots Roman Suzanne nicht „ein passives junges Mädchen (ist), das sich seinem Schicksal ergibt. In unserer Version“ – so führt Regisseur Nicloux weiter aus – „lehnt sie sich auf und überwindet alle Schicksalsschläge.“ Für die Briefform der Romanvorlage findet der Regisseur eine filmische Entsprechung in einer im Jahre 1765 angesiedelten Rahmenhandlung: Ein junger Adliger findet das Manuskript, in dem Suzanne Simonin ihren Leidensweg beschreibt, so dass Nicloux’ „Die Nonne“ fast vollständig aus Rückblenden („Zwei Jahre zuvor“, heißt es im Zwischentitel) mit der teilweise dazu gehörigen Off-Stimme besteht.

Die 16-jährige Suzanne Simonin (Pauline Étienne) wird von ihren Eltern fürs Kloster bestimmt, da das väterliche Vermögen lediglich für die Mitgift ihrer zwei älteren Schwestern ausreicht. Im Kloster Sainte Marie wird sie von der Klostergemeinschaft freudig aufgenommen („Die Schwestern waren gut zu mir“). Obwohl sie sich sicher ist, dass sie keine Berufung zur Ordensfrau hat, gibt Suzanne dem Zureden der Mutter Oberin (François Lebrun) und dem Bedrängen ihrer Mutter (Martina Gedeck) und ihrer Schwestern nach. Als sie aber das feierliche Gelübde ablegen soll, antwortet sie auf die Frage, ob dies ihr freier Wille sei, mit „Nein“. Denn: „Ich habe geschworen, vor Gott die Wahrheit zu sagen.“ Suzanne kehrt zu ihren Eltern zurück. Als jedoch ihre Mutter ihr offenbart, dass sie ein uneheliches Kind ist, und dass die Mutter Suzannes Klostereintritt als Sühne für ihre „einzige Sünde“ betrachtet, beugt sie sich. Die junge Frau wird erneut ins Kloster aufgenommen, wo sie diesmal widerwillig das Gelübde ablegt.

Genau in diesem Augenblick stirbt die alte Mutter Oberin – vom möglichen Selbstmord ist sogar die Rede, weil sie die junge Suzanne trotz ihrer rhetorischen Kunst von der Klosterberufung nicht habe überzeugen können. Die neue Oberin Sainte-Christine (Louise Bourgoin) erweist sich als regelrechte Sadistin hinter ihrer freundlichen Fassade. Schikanen, körperliche Bestrafung, Entzug von Speise und Trank und vor allem Isolation sind die Folgen. Unter dem Vorwand, sie sei besessen, verbietet ihr die neue Oberin sogar das Beten und den Empfang der Sakramente. Nach monatelangen Qualen gelingt es Suzanne, ein Verfahren einleiten zu lassen, damit sie von ihrem Gelübde dispensiert wird. Obwohl sie den entsprechenden Dispens nicht erreicht, findet ihr Martyrium ein Ende: Suzanne wird ins Kloster Saint-Eutrope versetzt. Die Qualen, die sie hier erlebt, sind ganz anderer Art. Denn die Freundlichkeit der neuen Oberin (Isabelle Huppert) entpuppt sich als lesbisches Begehren. Suzanne sucht Zuflucht in der Beichte, und wird vom Pater Castella (Marc Barbé) nicht nur dazu ermuntert, den Nachstellungen der Oberin zu widerstehen. Er verschafft ihr im wörtlichen Sinn den Schlüssel zur Freiheit.

Den Rigorismus der Handlung setzt Regisseur Guillaume Nicloux in eine sorgfältige Ausstattung und eine minimalistische Inszenierung um. Der überzogene Sadismus der Oberin Sainte-Christine findet eine nicht minder überspannte Entsprechung in der Art, mit der Isabelle Huppert die unbotmäßige Liebe der Oberin zu ihrer Schutzbefohlenen spielt. Dieses Spiel wirkt so lächerlich, so karikaturesk, dass sich der Zuschauer fragt, ob dies in der Absicht des Regisseurs lag oder er seine Darstellerin nicht zu führen in der Lage war. Damit kontrastiert das durchaus überzeugende Spiel von Pauline Étienne in seiner Mischung aus unerschütterlichem Festhalten an ihrem Freiheitsdrang aus einer immer wieder zum Vorschein kommenden Verletzlichkeit.

Ist „Die Nonne“ ein antikatholischer Film? Irgendwie schon. Wie könnte Diderots Vorlage denn anders inszeniert werden denn als ein Angriff auf die katholische Kirche? Dennoch: In der filmischen Version von Guillaume Nicloux erscheint Suzanne Simonin trotz aller Sorgfalt in der Ausstattung als eine sehr moderne junge Frau, der es vor allem um ihre Selbstbestimmung geht. Das Hadern mit einem ungewollten Leben im Kloster steht für eine Auseinandersetzung mit einem System gesellschaftlicher Unterdrückung. In diese Knechtungsmaschinerie sind freilich alle eingebunden: Nicht nur die Äbtissinnen, die ihre Macht auf unterschiedliche Art und Weise missbrauchen, und der Bischof, der Suzannes Freiheit dadurch beschneidet, dass ihr den Dispens von ihrem Gelübde verweigert. Zu diesem aus heutiger Sicht als menschenverachtend empfundenen Ordnungsprinzip gehört ebenso Suzannes Familie, die sie zum Profess unsanft drängt. Darin, dass ein Einzelner gegen diese im 18. Jahrhundert festgefügte gesellschaftliche Ordnung rebelliert, liegt allerdings ein Anachronismus. Denn in der Gesellschaft des „Ancien Régime“ – und teilweise auch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein – blieb der Frau eine einzige Alternative: das Klosterleben oder die Unterwerfung unter ihren Mann in einer arrangierten Ehe. Darauf macht denn auch unmissverständlich in Nicloux’ Film die Mutter Oberin im Kloster Saint-Eutrope aufmerksam. Von der eigentlichen Kritik an der katholischen Kirche der Vorlage bleibt in Guillaume Nicloux’ Verfilmung kaum etwas übrig.

Auf den ersten Blick könnte „Die Nonne“ als feministischer Film bezeichnet werden, weil Suzanne gegen die ihr zugedachte Rolle beziehungsweise gegen die in ihrer Zeit zementierte gesellschaftliche Stellung der Frau aufbegehrt. Ein genauerer Blick auf Nicloux’ Film kehrt allerdings diese Einschätzung ins Gegenteil um. Denn alle Frauen, die in „Die Nonne“ Autorität besitzen – ob Suzannes Mutter oder die drei im Film vorkommenden, klischeehaft gezeichneten Oberinnen –, missbrauchen sie auf die eine oder andere Art und Weise. Es sind allesamt Männer, die diesen Missbrauch abstellen: Der mit der Untersuchung von Suzannes Verhalten beauftragte Prälat enthebt die zur neuen Oberin aufgerückte Schwester Christine ihres Amtes und verfügt Suzannes Verlegung in ein anderes Kloster, Pater Castella beschwört sie in der Beichte, den Verführungen der Oberin standzuhalten, „als kämen sie vom Satan“, und verschafft ihr letztlich die Freiheit. Anwalt Manouri sorgt schließlich dafür, dass die entflohene Nonne beim Baron de Lasson Unterschlupf findet, der sie als seine Tochter anerkennt. Damit kehrt sich ebenfalls Suzannes jahrelange Suche nach einer (Ersatz-)Mutter in die Sehnsucht nach dem unbekannten Vater um. „Die Nonne“ erweist sich als durch und durch antifeministischer Film.
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