TORE TANZT | Tore tanzt
Filmische Qualität:   
Regie: Katrin Gebbe
Darsteller: Julius Feldmeier, Sascha Alexander Gersak, Annika Kuhl, Daniel Michel
Land, Jahr: Deutschland 2013
Laufzeit: 110 Minuten
Genre: Dramen
Publikum: ab 16 Jahren
Einschränkungen: G +, X
im Kino: 11/2013
Auf DVD: 7/2014


José García
Foto: rem

Der 18-jährige Tore (Julius Feldmeier) wird durch seine Taufe in einem See „Jesus-Freak“. Die Off-Stimme, die von „Angst überwinden und Gott vertrauen“ spricht, stellt auch die Frage, die über Katrin Gebbes Spielfilmdebüt „Tore tanzt“ wie ein Motto steht: „Was können Menschen mir schon antun?“ Wichtigster Leitsatz für diese Glaubensbewegung scheint zu sein, ein gewaltloses Leben zu führen sowie das Gebot „Liebe deinen Nächsten“.

Ein Zufall führt Tore mit Bennos (Sascha Alexander Geršak) Patchwork-Familie zusammen: Auf einem Rastplatz ist Bennos Auto liegengeblieben, als Tore mit anderen Jesus-Freaks dort Pause macht. Das Auto will trotz aller Versuche partout nicht anspringen, so dass Tore auf den Gedanken kommt, Gott darum zu bitten. Und siehe da: Der Motor springt an. Benno ist so verblüfft, dass der verbissen Ungläubige Tores Einladung folgt, eine Zusammenkunft der freien Religionsgemeinschaft zu besuchen. Dort wird sich Tore so sehr in Trance tanzen, dass er einen epileptischen Anfall bekommt. Bennos Einladung, zu sich nach Hause zu kommen, leistet Tore etwas später Folge, als er sich von seiner Jesusfreak-Gruppe abwendet – entsetzt darüber, dass sich sein Freund Eule (Daniel Michel) nicht an die Vorschrift der Gemeinschaft hält, die sexuelle Beziehungen vor der Ehe untersagt.

So wird Tore in das vorgebliche Familienidyll von Benno und seiner Frau Astrid (Annika Kuhl) aufgenommen, die mit deren 15-jähriger Tochter Sanny (Swantje Kohlhof) und dem jüngeren Bruder Dennis (Til-Niklas Theinert) den Sommer (oder vielleicht doch das ganze Jahr?) in einem Schrebergarten verbringen. Anfangs verstehen sich Benno und Tore bestens. Der Jüngere darf in einem Zelt neben dem Häuschen wohnen. Dafür hilft er im Garten und im Haushalt. An Sannys Geburtstag schlägt jedoch Benno Tore unvermittelt ins Gesicht. Was sich zunächst einmal um ein Versehen zu handeln scheint, ist der Anfang einer Entwicklung, die zu immer schwereren Misshandlungen und zu einer Art Sklaverei führt. Benno bekommt immer kräftigere Wutanfälle, deren Zielscheibe keineswegs Tore allein ist. Benno misshandelt auch Astrid, missbraucht sogar die eigene Stieftochter. Wohl deshalb bleibt Tore bei der Familie, obwohl er nach einem Krankenhausaufenthalt die Chance zur Flucht gehabt hätte. Er versteht seine Mission darin, Sanny und Dennis aus Bennos Griff zu befreien beziehungsweise zu erlösen.

Die der klassischen Dramaturgie entstammenden drei Akte überschreibt Drehbuchautorin und Regisseurin Katrin Gebbe jeweils mit „Glaube“, „Liebe“ und „Hoffnung“. Nach dem friedfertigen ersten Kapitel, in dem Eintracht herrscht, wird der zweite Akt durch die sich steigernde Gewalt zu einem Leidensweg für die Hauptfigur, aber ebenso zu einer Qual für den Zuschauer. Das Drehbuch entfaltet sich weitgehend authentisch – beispielsweise erdenkt Katrin Gebbe eine glaubwürdige Konstellation als Erklärung, warum Tore zu Bennos Familien zieht. Zur Glaubwürdigkeit von „Tore tanzt“ tragen nicht nur die Kameraführung von Moritz Schultheiß und der Schnitt von Heike Gnida, die eine düster-bedrückende Atmosphäre im Sinne eines Psychothrillers schaffen, sondern insbesondere das Spiel der Hauptdarsteller bei.

Kinodebütant Julius Feldmeier gestaltet Tore als den naiven jungen Erwachsenen, der laut der Regisseurin an Dostojewskis Romanhelden, den Epileptiker Fürst Myschkin aus „Der Idiot“, angelehnt ist. Dazu führt Katrin Gebbe aus: „Er ist ein junger, erwachsener Mann, aber sein Verhalten scheint im Vergleich zu den anderen oft unangemessen naiv und kindisch zu sein, idiotisch eben. Dennoch ist er nicht dumm, sondern lediglich ein guter Mensch.“ Wie Myschkin ist Tore bereit zu verzeihen und stets das Gute im Menschen zu sehen. Sascha Alexander Geršak verkörpert Benno mit ähnlicher Intensität und körperlicher Präsenz, mit der er in „Fünf Jahre Leben“ (siehe Filmarchiv) das Opfer gespielt hatte – nur dass er in „Tore tanzt“ sozusagen die Seiten gewechselt hat.

Allerdings verlangt die rohe Brutalität, die über den gewaltlosen Naiven zu siegen scheint, in etlichen bis zur Schmerzgrenze gehenden Szenen vom Zuschauer Einiges ab. Die Kompromisslosigkeit, mit der Katrin Gebbe ihr Spielfilmdebüt realisiert, ohne auf vordergründige psychologische Erklärungen zu schielen, brachte ihr eine Einladung zum offiziellen Programm der Filmfestspiele Cannes (in der Sektion „Un certain regard“) ein – als einziger deutscher Beitrag.

Der unerbittliche Blick in menschliche Abgründe verstört insbesondere durch zwei Gesichtspunkte: Einerseits steigert sich Benno in seiner Brutalität je mehr, desto gewaltloser Tore auf seine Angriffe reagiert. Vielleicht noch eindringlicher nimmt sich die Entwicklung von Unbeteiligten oder gar selbst Gepeinigten zu Peinigern aus – für sie wird Tore zum Sündenbock, der stellvertretend für alle leiden soll. Von Dostojewski stammt ebenfalls die berühmte Aussage: „Wenn es keinen Gott gibt, dann ist alles erlaubt“ – ein Satz, der zu dem als Nichtgläubigen, ja als Atheisten beschriebenen Benno in dieser düsteren, erschütternden Passions-, aber zugleich Erlösungsgeschichte mustergültig passt, die von christlichen Sinnbildern durchzogen ist.
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