BLANCANIEVES – EIN MÄRCHEN VON SCHWARZ UND WEISS | Blancanieves
Filmische Qualität:   
Regie: Pablo Berger
Darsteller: Maribel Verdú, Daniel Giménez Cacho, Ángela Molina, Macarena García, Sofía Oria, Pere Ponce, José María Pou, Imma Cuesta
Land, Jahr: Spanien / Frankreich 2012
Laufzeit: 104 Minuten
Genre: Dramen
Publikum: ab 12 Jahren
Einschränkungen: --
im Kino: 11/2013
Auf DVD: 7/2014


José García
Foto: AV Visionen

Es war einmal ein kleines Mädchen, dessen Mutter bei seiner Geburt starb. Der Vater, der berühmte Stierkämpfer Antonio Villalta (Daniel Gómez Cacho), wurde von einem Stier schwer verwundet. Er überlebte zwar, aber der nun an den Rollstuhl Gefesselte mag sein Kind nicht sehen. Er heiratet die Krankenschwester Encarna (Maribel Verdú), die sich im Schloss-ähnlichen Landgut wie eine (böse) Königin aufführt. Dorthin wird die kleine Carmen (Sofía Oria) gebracht, als ihre Großmutter (Ángela Molina) stirbt. Die Kleine wird von ihrer Stiefmutter in den Keller gesperrt und zur harten Arbeit gezwungen. Erst viele Jahre später gelingt es der inzwischen 17-jährigen Carmen (nun von Macarena García dargestellt) die Flucht. Sie wird von sieben Zwergen aufgenommen, die als parodistische Stierkämpfer durch die Dörfer tingeln.

Frei nach „Schneewittchen“ der Gebrüder Grimm liefert der spanische Regisseur Pablo Berger einen Stummfilm in grobkörnigen Schwarzweißbildern, der sich als eine Hommage an den Frühfilm ausnimmt. Die Kameraführung von Kiko de la Rica wechselt wirkungsvoll zwischen den der Stummfilmära eigenen expressionistischen Nahaufnahmen und den Totalen. Die abwechslungsreiche Musik von Alfonso de Vilallonga besticht durch die Anlehnung an die 1920er Jahre. Eine ausgezeichnete, mit „Carmen“-Elementen angereicherte Neuinterpretation des klassischen Märchens im Spanien der zwanziger Jahre.


Interview mit Regisseur Pablo Berger

Im Jahre 2011 kam ein sehr erfolgreicher Stummfilm ins Kino: „The Artist“ gewann fünf Oscars, darunter als „Bester Film“. Zu diesem Zeitpunkt war allerdings Ihr Film „Blancanieves“ bereits fertiggedreht. Wie kamen Sie auf den Gedanken?

Pablo Berger: „Blancanieves“ ist mein zweiter Spielfilm. Das Drehbuch zu „Blancanieves“ habe ich im Jahre 2004, direkt nach meinem ersten Film „Torremolinos 73“ geschrieben. Ein Jahr später wandte ich mich an mehrere Produktionsfirmen. Wenn sie aber auf der ersten Seite lasen, dass es sich um einen Stummfilm handelte, hörten sie auf zu lesen. Ich hörte nur noch: „Pablo, Du bist verrückt geworden. Wie willst Du in einer Technik einen Film drehen, die seit 90 Jahren verschwunden ist?“ Ich stand vor verschlossener Tür. Deshalb wurde es ein acht Jahre langer Weg. Dann wollte es der Zufall, dass „The Artist“ ins Kino kam. Offenbar war die Idee in der Luft, denn zu dem Zeitpunkt hatte ich schon „Blancanieves“ abgedreht.


Dachten Sie dabei: „Schade, der ist mit zuvorgekommen “, oder war der große Erfolg von „The Artist“ für Sie ein Vorteil?

Pablo Berger: Ich denke positiv. Logischerweise fand ich es zunächst ärgerlich, dass ich nicht als Erster einen solchen Film ins Kino brachte. Aber bereits am nächsten Tag hatte sich meine Einstellung geändert. Ich dachte: „Gut, dass ‚The Artist’ so erfolgreich ist. Er wird das Eis brechen und ein Publikum für Stummfilme gewinnen.“ So ist es auch gekommen: „Blancanieves“ wird in der ganzen Welt von den Vereinigten Staaten über Mexiko und Europa bis Korea gezeigt. Ich hoffe, dass nach meinem Film ein deutscher oder ein japanischer Stummfilm realisiert wird.


„Blancanieves“ ist vom Schneewittchen-Märchen inspiriert. Darin spielt der Stierkampf allerdings eine wichtige Rolle. Wie kamen Sie darauf, Ihren Film im Stierkampf-Milieu anzusiedeln?

Pablo Berger: Zunächst einmal: „Blancanieves“ ist kein Film über den Stierkampf. Allerdings war in den zwanziger Jahren der Stierkampf das Event schlechthin. Nur der Stierkampf konnte 20.000 Zuschauer versammeln. Mir lag es fern, Schneewittchen als die Tochter des spanischen Königs zu gestalten. Sie sollte eine volkstümliche Figur sein. Eine gute Möglichkeit, dass sie in einem Schloss, in einem riesigen Landgut aufwachsen konnte, bestand darin, ihren Vater als berühmten Stierkämpfer zu etablieren. Klar, dass heutzutage der Stierkampf umstritten ist: Die einen sind dafür, die anderen dagegen. Wir Kreative können uns aber nicht nach dem richten, was politisch korrekt oder politisch inkorrekt ist. Uns bewegt das Bedürfnis, eine Geschichte zu erzählen. Für die Geschichte, die ich erzählen wollte, spielte dieser Kontext eine wichtige Rolle. „Blancanieves“ ist aber wie gesagt kein Film für Stierkampf-Fans.


„Blancanieves“ beginnt als „Film im Film“. Wollten Sie damit die Zuschauer leichter in die weit zurückliegende Zeit einführen, in der er angesiedelt ist?

Pablo Berger: Ich wollte mit einer Art russischer Puppe beginnen. So sind die ersten Bilder in Farbe – der Zuschauer sieht als erstes einen roten Vorhang. Ein Orchester stimmt die Instrumente. Ich wollte den Zuschauer in die Situation einführen, dass er einen Stummfilm mit Orchesterbegleitung sehen wird. Wir haben den Film im Übrigen in verschiedenen Städten, auch in Deutschland, mit einem richtigen Orchester aufgeführt.


Eine Frage zur Musik, die ja in einem Stummfilm eine zentrale Rolle spielt: Hin und wieder hat man den Eindruck, ein paar Takte von Satie zu hören. Stimmt das?

Pablo Berger: Wir setzen zwar kein Satie-Stück ein. Mit dem Verantwortlichen für die Musik Alfonso de Vilallonga bin ich aber übereingekommen, dass sie sich am französischen Impressionismus etwa Satie und Ravel sowie am der spanischen Musik aus dieser Zeit – Albéniz, Turina oder Granados – orientieren sollte. In „Blancanieves” spielt die Musik eine so zentrale Rolle, dass der Film eher einer Oper näherkommt als einem Spielfilm. Denn in einem Spielfilm gibt es manchmal Musik und manchmal nicht. Hier ist sie vom ersten Augenblick bis zum Ende des Nachspanns präsent.


Wie kamen Sie auf die Idee, dass die Zwerge als Stierkämpfer durch die Dörfer tingeln?

Pablo Berger: Die Zwerge stehen am Anfang. Das erste Bild vom Film waren die Stierkämpfer-Zwerge. Ich hatte in einem Fotoband von Cristina García Rodero mehrere Bilder gesehen. Auf einem Foto schauen stierkämpfende Zwerge in die Kamera. Ich stellte mir ein Schneewittchen mitten unter ihnen vor. So hatte ich bereits das Plakat für den Film. Ich musste nur noch den Film drehen ...


Allerdings ist die Bildsprache Ihres Filmes um Einiges entfernt vom Original-Märchen.

Pablo Berger: Ja, es handelt sich nicht um eine Adaption. „Blancanieves“ ist sehr frei vom Märchen der Gebrüder Grimm inspiriert. Ich wollte die Hauptfiguren – Schneewittchen, die Stiefmutter, die Zwerge – beibehalten, aber auch neue Personen hinzufügen, vor allem den Vater und die Großmutter. Der Zuschauer, der meinen Film sieht, erkennt einige Elemente wieder, er fühlt sich nicht getäuscht. Die Herausforderung bestand darin, dem Zuschauer ein Märchen zu erzählen, das er bereits kennt.


Wie reagierte die bekannte Schauspielerin Maribel Verdú auf den Vorschlag, in einem Stummfilm mitzuwirken und darin auch noch die böse Stiefmutter zu spielen?

Pablo Berger: Maribel Verdú stieg als erste auf den Wagen der Zwerge. Sie hat bereits alle Rollen gespielt – und sie hat sie sehr gut gespielt. Für Maribel (Verdú) ist es wichtig, neue Risiken einzugehen, in neuartigen Projekten mitzuwirken. Dazu kam, dass sie noch nie als Bösewicht aufgetreten war. Für eine solche Schauspielerin, Schneewittchens Stiefmutter zu spielen, bedeutet so etwas, wie für einen Theaterdarsteller den „Hamlet“ zu geben. Deshalb sagte sie: „Ich möchte unbedingt dabei sein. Du kannst mit mir rechnen.“ Sie war geduldig und wartete fünf Jahre lang, bis wir endlich drehen konnten.


Wie war die Arbeit mit der kleinen Sofía Oria, die Schneewittchen als Kind darstellt?

Pablo Berger: Sie war noch nie bei einem Casting gewesen. Deshalb war es eine große Überraschung, dass sie so gut war. Denn Kinder schauspielern nicht. Deshalb ist es für sie entweder sehr leicht oder einfach unmöglich, in einem Film mitzuspielen. Für Sofía war es sehr leicht. Ich habe lediglich die Rahmenbedingungen geschaffen. Denn für Kinder ist es wichtig, dass sich die Umgebung spielerisch ausnimmt. Eine große Hilfe in dieser Beziehung waren auch der Kameramann Kiko de la Rica und die erwachsenen Schauspieler. Angela Molina ist gerade Großmutter geworden, Daniel Giménez Cacho hat eine Tochter in Sofías Alter – deshalb fiel es ihnen auch leicht, sich auf Sofía einzustellen. Beispielsweise ist die Szene, in der das kleine Mädchen den von Daniel Giménez Cacho verkörperten Vater entdeckt, die emotionalste Szene im ganzen Film. Auch für mich war es leicht, mit ihr zu arbeiten. Schließlich habe ich ebenfalls eine Tochter in ihrem Alter.


Wie haben Sie die Zuschauer in der Stierkampfarena zusammengestellt? Sie sehen aus, als kämen sie geradewegs von einem Foto etwa der Sammlung des bekannten spanischen Fotografen José Ortiz-Echagüe...

Pablo Berger: Ich bin davon überzeugt, dass die Castings genauso wichtig für Haupt- und Nebendarsteller wie für die Komparsen sind. In einem Film darf nicht ein noch so kleines Detail dem Zufall überlassen werden. Dass wir notgedrungen eine so lange Anlaufzeit für den Film brauchten, hatte den Vorteil, dass wir gründlich recherchieren konnten. So konnten wir die Malerei, die Fotografie, die Musik der zwanziger Jahre eingehend analysieren, um dem Film die richtige Atmosphäre zu verleihen. Der Film sollte eine Art Zeitreise in die 1920er Jahre sein. Deshalb ist es mir wichtig, dass die Gesichter, die zwar kurz, aber eben in Großaufnahme zu sehen sind, authentisch wirken. In diesem Zusammenhang füllt Ortiz-Echagües Fotografie eine wichtige Vorbildfunktion. Denn ich halte ihn für eine Art El Greco in der Fotografie. Darüber hinaus lehnten wir uns auch an spanische Maler aus dieser Zeit – etwa Zuloaga oder Solana – an. Ich wollte das Spanien aus dieser Epoche abbilden.
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