VENEZIANISCHE FREUNDSCHAFT | Io sono Li
Filmische Qualität:   
Regie: Andrea Segre
Darsteller: Tao Zhao, Rade Serbedzija, Roberto Citran, Giuseppe Battiston
Land, Jahr: Italien / Frankreich 2011
Laufzeit: 98 Minuten
Genre: Dramen
Publikum: ab 16 Jahren
Einschränkungen: D
im Kino: 12/2013


José García
Foto: Rendezvous Filmverleih

Eine „inoffizielle“ Fabrik in Rom. Hier näht die junge Shun Li (Zhao Tao) zusammen mit anderen Chinesinnen T-Shirts. Für die Kosten ihrer Reise und ihrer Aufenthaltsgenehmigung kam eine Mafia-artige chinesische Organisation auf. Nun muss sie ihre Schulden abbezahlen, damit ihre Chefs ihren achtjährigen Sohn nachholen, der in China bei Lis Vater geblieben ist. Shun Li schuftet deshalb ziemlich hart. So schreibt sie etwa ihrem Sohn, wenn sie dreißig T-Shirts nähen solle, würde sie weitere zehn fertigen: „Diese zehn sind für Dich.“ Weil sie eine so gute Arbeiterin ist, wird Shun Li ausersehen, ein altes Café zu führen, das die Organisation in Chioggia, einem Fischerstädtchen bei Venedig, erworben hat. Mit ihrem gebrochenen Italienisch soll sie hier die verwurzelten Fischer der Lagune in ihrem Stammlokal bedienen. Denn Chioggia liegt trotz der Nähe zu Venedig abseits der Touristenströme. Aus der Fabrikarbeiterin in Rom wird eine Serviererin in einer Kleinstadt mit starker sozialer Identität.

Die alteingesessenen Stammkunden staunen nicht schlecht, als sie von einer Chinesin bedient werden sollen, die nicht einmal weiß, wie man einen Caffe-Corretto zubereitet – geschweige denn, dass sie den Namen richtig aussprechen könnte. Obwohl sich Li unter der Kundschaft bald Respekt verschafft, indem sie ziemlich hartnäckig Schulden eintreibt, bleibt sie für Alteigesessene einfach „die Chinesin“. Nur Bepi (Rade Sherbedgia), ein Slawe, der seit dreißig Jahren in Chioggia lebt, hat sie nach ihrem Namen gefragt – er nennt sie fortan als Einziger bei ihrem Namen. Shun Li versteht noch nicht genug Italienisch, um sich mit den alten italienischen Fischern zu verständigen. Bei Bepi ist es anders: Sie brauchen wenig Worte, um einander zu verstehen. Außerdem verbindet sie die Liebe zur Poesie. Bepi wird im Dorf wegen seiner Vorliebe zum Reimen „der Poet“ genannt. Shun Li erzählt ihm von den schwimmenden Kerzen, die in ihrer Heimat zu Ehren des Dichters Qu Yuan angezündet werden.

Zwischen der jungen Chinesin und dem verwitweten Slawen entsteht eine tiefe Freundschaft. Irgendwann einmal lädt er sie ein, sein in der Lagune auf Pfählen stehendes Fischerboot kennenzulernen. Bepi lässt Shun Li auch sein Telefon benutzen, um ihren Sohn in China anzurufen. Nun aber beginnen nicht nur die italienischen Fischer über sie zu reden. Auch die chinesischen Chefs sind gegen eine solche Freundschaft und zwingen Shun Li dazu, sich nicht mehr mit Bepi zu treffen.

Die Kamera von Luca Bigazzi schwelgt regelrecht in der Lagune und fängt stimmungsvolle Bilder von den Booten, aber auch von den Fischern ein. Für die kurze Zeit eines Tagesausflugs, den Shun Li nach Venedig unternimmt, gibt Bigazzi auch Postkartenbilder der Lagunenstadt wieder. Diese kontrastieren jedoch mit der grauen Winterstimmung am Fischerhafen und in den bescheidenen Häusern und Lokalen von diesem „kleinen Venedig“ namens Chioggia. Die leicht melancholischen Bilder entsprechen der poetischen Anmutung des Filmes von Regisseur und Mit-Drehbuchautor Andrea Segre, entfachen aber gerade durch ihre Schmucklosigkeit eine kraftvolle Wirkung.

Segres Film erzählt von einer Freundschaft zwischen Menschen aus unterschiedlichen Welten. Dazu führt Regisseur Andrea Segre aus: „Im Grunde genommen ist ,das kleine Venedig‘ ein imaginärer Ort – aber absolut realistisch – der Begegnung zweier Welten in der Krise. Die Welt derer, die eingeengt sind, oder die den Verlust ihrer Wurzeln gewählt haben, und die Welt derer, die dabei zusehen, wie sich ihre Wurzeln tiefgreifend verändern, bis hin zum Verschwinden. Zwei Welten, die plötzlich in dem Reichtum eines fast unmöglichen Dialogs einen Weg entdecken, Würde und vor allem einen Austausch mit dem Anderen wiederzufinden. Diese beiden Welten messen sich und verstehen, dass sie dasselbe Problem haben; indem sie sich einander immer mehr anvertrauen, versuchen sie sich gegenseitig zu retten. Eine fast traumgleiche Heilung, ermöglicht auch durch den Charme eines Ortes, der venezianischen Lagune im Süden Venedigs, eines Ortes, der fast noch nie vom italienischen und europäischen Film aufgegriffen wurde.“

Zwar wirkt die Aussage „Ein Teil des Wassers bleibt in der Lagune gefangen“, die eine Freundin Shun Li erklärt, etwas plakativ. Andrea Segre gelingt es aber, auch dank der hervorragenden Darsteller Zhao Tao und Rade Sherbedgia, eine allgemein gültige Geschichte zu erzählen, die aber in den konkreten Zusammenhang des Verlustes von Heimat eingebettet ist. Dabei nimmt es sich als eine Art Paradoxon aus, dass Shun Li aus einer Hafenstadt stammt, in der ihr Vater wie die meisten Bewohner von Chioggia Fischer gewesen ist. Aber auch Bepi, der bereits so lange in Italien lebt, entdeckt durch die Freundschaft mit der gerade eingereisten Chinesin, dass er ebenfalls ein Migrant ist. Plötzlich stehen die beiden als ein Fremdkörper in der Gesellschaft der alteingesessenen Venezianer. „Venezianische Freundschaft“ erzählt in poetisch-wehmütigen Bildern und mit einer tiefen Menschlichkeit von einer anrührenden Freundschaft, aber auch von den Schwierigkeiten, Vorurteile gegenüber Menschen aus anderen Kulturen abzubauen. Andrea Segres Film wurde mit dem LUX-Preis 2012 des Europäischen Parlaments und dem Publikumspreis des Internationalen Filmwochenendes Würzburg 2013 ausgezeichnet.
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