FRAU, DIE SICH TRAUT, DIE | Die Frau, die sich traut
Filmische Qualität:   
Regie: Marc Rensing
Darsteller: Steffi Kühnert, Jenny Schily, Christina Hecke, Steve Windolf, Lene Oderich, Anna Blomeier, Christina Große
Land, Jahr: Deutschland 2012
Laufzeit: 98 Minuten
Genre: Dramen
Publikum: ab 12 Jahren
Einschränkungen: --
im Kino: 12/2013
Auf DVD: 6/2014


José García
Foto: X-Verleih

Die Wolken und das Meer, die in den ersten Bildern von Marc Rensings Spielfilm „Die Frau, die sich traut“ zu sehen sind, geben nicht nur eine Stadt an der Ostseeküste als Handlungsort an. Sie deuten außerdem an, dass die See eine zentrale Rolle darin spielen wird. Doch zunächst lernt der Zuschauer die Protagonistin von Rensings Film kennen: Beate (Steffi Kühnert) arbeitet in einer Großwäscherei. Mit harter Arbeit hat die Alleinerziehende ihre zwei Kinder großgezogen. Alex (Steve Windorf) wohnt mit seiner schwangeren Freundin Katrin (Anna Blomeier) immer noch in Beates Haus, weil sich die jungen Leute bislang keine eigene Wohnung leisten können. Beates Tochter Rike (Christina Hecke) ist zwar aus dem Haus ausgezogen. Weil sich die (wie ihre Mutter) Alleinerziehende auf ihr Examen vorbereitet, kümmert sich Beate darüber hinaus um die Betreuung von Rikes Tochter Lara (Lene Oderich). Ihre eigene Arbeit, die Rundumversorgung von Sohn und Schwiegertochter, für die sie kocht und wäscht, sowie die Hausaufgaben der Enkelin lassen Beate kaum Zeit, an sich selbst zu denken. Sie konzentriert sich durch und durch auf ihre Familie – und ihre Kinder nutzen das in einer Art aus, mit der das Drehbuch von Annette Friedmann und Marc Rensing schon etwas zu dick aufträgt.

Beates Selbstaufopferung für die Familie wird sich jedoch bald ändern. Dies hat nicht vorwiegend damit, dass sie bald 50 wird, sondern eher mit einer niederschmetternden Diagnose zu tun: Beate wird als Spätfolge des in der DDR üblichen Anabolika-Dopings Gebärmutterhalskrebs in fortgeschrittenem Stadium diagnostiziert. Statt sich sofort in eine Chemotherapie zu begeben, hat Beate fortan ein einziges Ziel vor Augen, die Verwirklichung eines Jugendtraums: Einmal durch den Ärmelkanal zu schwimmen. Denn vor dreißig Jahren war sie DDR-Schwimmmeisterin. Die Aussicht auf eine olympische Medaille gab sie jedoch bei der Geburt ihrer Tochter auf. Mit Hilfe ihrer besten (und wohl einzigen) Freundin Henni (Jenny Schily) beginnt die einstige Leistungsschwimmerin mit großem Nachholbedarf ein anspruchsvolles Training: Stundenlanges Schwimmen in der Ostsee bei jedem Wind und Wetter, Laufen, Rudern ... und dazu das Sich-Abhärten, um den Körper auf die Wassertemperatur im Ärmelkanal einzustellen, die Beate in einer Badewanne voller Eiswürfel simuliert.

Marc Rensing setzt auf ein ruhiges Erzähltempo und auf die schönen Cinemascope-Bilder des Kameramanns Tom Fährmann, die von gedämpften Streicherklängen begleitet werden. Diese Stilmittel stehen im Dienst einer Handlung, die insbesondere ihre Protagonistin in den Mittelpunkt stellt. Steffi Kühnert, die vor zwei Jahren an der Seite von Milan Peschel in dem mit vier deutschen Filmpreisen und zwei Preisen der deutschen Filmkritik ausgezeichneten Sterbedrama „Halt auf freier Strecke“ (siehe Filmarchiv) glänzte, verkörpert die Frau, die sich aus dem Alltagstrott auszubrechen traut, um einen alten Traum zu verwirklichen, mit einer beeindruckenden Mischung aus Verletzlichkeit und Trotz. Steffi Kühnert gestaltet Beate darüber hinaus als willensstarke Frau, die in ihrem Entschluss, den Ärmelkanal zu durchqueren, an den in „Sein letztes Rennen“ (siehe Filmarchiv) von Dieter Hallervorden gespielten ehemaligen Leistungssportler erinnert, der in hohem Alter unbedingt am Berliner Marathonlauf teilnehmen will.

Obwohl Beates Kehrtwendung von der aufopferungsvollen Familienmutter zur auf ihre eigenen Ziele fixierten Frau, die dadurch ihr Leben neu zu ordnen sucht, etwas plötzlich geschieht und ihre Weigerung, den eigenen Kindern die wirklichen Beweggründe für ihr sie befremdendes Verhalten zu kennen ebenso wenig glaubwürdig wirkt, obwohl „Die Frau, die sich traut“ gegen Ende mit einer melodramatischen Spannung aufgeladen wird, die der Film bis dahin gar nicht nötig hatte, gelingt es Regisseur und Mit-Drehbuchautor Marc Rensing, mit seiner Charakterstudie den Zuschauer zu berühren.

Darüber hinaus erzählt „Die Frau, die sich traut“ von einer wunderbaren Freundschaft. Henni ist so ziemlich das Gegenteil von Beate, selbstbewusst, lebensfroh und abenteuerlustig. Genauso wie Beate zu Beginn Henni geduldig zuhört, immer wenn diese von ihren Liebesabenteuern erzählt, steht Henni nach Beates Erkrankung bedingungslos zu ihr. Obwohl Henni zunächst versucht, Beate zu einer Behandlung zu bewegen, lässt sie sich von Beates Entschluss überzeugen, sich nur noch auf das eine Ziel zu konzentrieren, und hilft ihr bei deren Vorbereitungen. Die Dialoge zwischen den Freundinnen gehören zu den Glanzstücken des Drehbuchs von Annette Friedmann und Marc Rensing. Denn sie sprühen nur so vor Natürlichkeit, aber auch vor Witz. Sie zeugen von einer in einer lebenslangen Freundschaft gewachsenen Vertraulichkeit. Für humorvolle Zwischentöne sorgen nicht nur die Gespräche der Freundinnen, sondern auch die schwierige Beziehung zwischen Beates Sohn Alex und seiner schwangeren Freundin Katrin, die sich über Alex‘ Unentschlossenheit, das traute Mutterheim zu verlassen und endlich den Job in Rostock anzunehmen, zunehmend aufregt.

Vor der wunderbar rauen Kulisse an der Ostseeküste entwickelt sich „Die Frau, die sich traut“ zu einer Tragikomödie über Willensstärke und die Verwirklichung des eigenen Traums, die außerdem von einer zauberhaften lebenslangen Freundschaft handelt.
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