IMAGINE | Imagine
Filmische Qualität:   
Regie: Andrzej Jakimowski
Darsteller: Edward Hogg, Alexandra Maria Lara, Melchior Derouet, Francis Frappat
Land, Jahr: Frankreich /Großbritannien/Polen/Portugal 2012
Laufzeit: 105 Minuten
Genre: Dramen
Publikum: ab 12 Jahren
Einschränkungen: --
im Kino: 1/2014
Auf DVD: 8/2014


José García
Foto: Neue Visionen

Die unscharfen Bilder, die kaum etwas erkennen lassen, vermitteln dem Zuschauer ein Gefühl für die Welt der Blinden und Sehbehinderten, in der Andrzej Jakimowskis Spielfilm „Imagine“ angesiedelt ist. Ian (Edward Hogg) kommt zu einer in einem ehemaligen Kloster in Lissabon untergebrachten Augenklinik. Er wurde dorthin berufen, um den blinden Kindern und Jugendlichen verbesserte Orientierungstechniken beizubringen. Was der neue Lehrer unter „räumlicher Orientierung“ versteht, geht allerdings viel weiter, als die Klinikleitung dachte: Ian bewegt sich ohne Stock oder Blindenhund durch die Welt. Er orientiert sich mithilfe von Schallgeräuschen. Durch die Nutzung beispielsweise mit Zungenschnalzen oder Fingerschnippen hervorgerufener Echos bestimmt er die Position und Größe umliegender Objekte – Echoortung heißt diese Methode. Die Wahrnehmung der Räume soll den blinden Schülern ein größeres Bewusstsein vermitteln, um die Welt zu erkunden, wobei nicht nur Neugier, sondern auch Imagination, die Vorstellungskraft eine wichtige Rolle spielt.

Bald wird der Unterricht von den Innenräumen in den geräumigen und sonnigen Hof verlegt. Dort lässt der neue Lehrer seine (von in der Realität blinden und sehbehinderten Kindern und Jugendlichen dargestellten) Schüler ihre Wahrnehmung für die umliegenden Geräusche schärfen. Sie sollen sich die dazu gehörigen Szenen vorstellen – daher auch der Filmtitel „Imagine“. Um die Wirksamkeit seiner Methoden zu überprüfen, stellen ihm die Schüler Hindernisse in den Weg, die Ian mit seinem Zungenschnalzen so schnell erkennt, dass etwa Serrano (Melchior Delouret) nicht glauben mag, dass der neue Lehrer wirklich blind ist. Deshalb folgt er Ian heimlich, wenn sich der Lehrer aus der Schule entfernt, um das pulsierende Leben auf Lissabons Straßen zu erleben.

Solche Spaziergänge unternimmt Ian bald auch mit der scheuen, zurückgezogen lebenden Eva (Alexandra Maria Lara). Während er sie durch den dichten Stadtverkehr und auf belebten Gassen und Straßen etwa zu einem Café oder zu einem Schuhgeschäft führt, um dort die Schuhe mit den lautesten Absätzen zu kaufen, erklärt Ian der jungen Deutschen, was er alles wahrnimmt. Ob dies alles – etwa die Schiffe im Hafen – real oder imaginiert ist, bleibt zwar in der Schwebe. Eva erlangt aber durch diese Ausflüge außerhalb der Anstaltsmauern ein neues Selbstbewusstsein. Langsam bahnt sich auch eine Liebesbeziehung zwischen Ian und Eva an. Da solche Eskapaden mitunter lebensgefährlich werden können, fühlt sich jedoch der Anstaltsarzt (Francis Frappant) gezwungen, einzuschreiten.

Regisseur Andrzej Jakimowski verzichtet mit Ausnahme der eingangs erwähnten Anfangssequenz darauf, die Blindheit mit visuellen Mitteln darzustellen. Umso kunstfertiger entwickeln die für die Tonspur verantwortlichen Guillaume Le Braz und Jacek Hamela eine Tonebene, die zusammen mit der dazu korrespondierenden Musik von Tomasz Gassowski dem Zuschauer das Gefühl eines verschärften Hörens vermittelt. Der Zuschauer erlebt durch diese Geräusche und durch Ians Erklärungen die Großstadt neu. Dazu passt auch der teilweise springende Schnitt, der zusammen mit den von Kameramann Adam Bajerski gewählten Bildausschnitten bewirkt, dass der Zuschauer nur Fragmente der Wirklichkeit wahrnimmt. Wie die Blinden muss auch er die Realität aus diesen Teilen zusammenstellen, oder eben sie sich vorstellen.

Wenn Ian mit seinen Fingern schnippst, mit der Zunge schnalzt oder auch mit seinen lauten Schuhen Geräusche produziert, ruft er ein Echo hervor, das ihm über Teile einer Wirklichkeit informiert, die er sich aber vorstellen muss. Deshalb stellen sich nicht nur seine Schüler die Frage, was sich lediglich in seiner Vorstellungskraft abspielt und was wirklich der Realität entspricht. Exemplarisch verdeutlicht der Film diese Ambivalenz an einem im entfernten Hafen liegenden Kreuzfahrtschiff, das Ian deutlich hört, das aber sonst niemand sehen oder hören kann.

Die mit der eigentlichen Handlung um die Kraft der Vorstellungskraft verknüpfte Liebesgeschichte zwischen dem Lehrer und der jungen Deutschen könnte zwar als ein Anhängsel oder als ein Zugeständnis an Kinokonventionen angesehen werden. Sie kann aber auch als Sinnbild für den ganzen Film gelten: Genauso wie Liebe auf Vertrauen basiert, so verlangt Ian einen unbedingten Glauben an seine Methode der Raumorientierung mittels Echoortung. Darüber hinaus erinnert Andrzej Jakimowskis „Imagine“ an Spielfilme über Lehrer mit unkonventionellen Methoden wie „Die Kinder des Monsieur Mathieu“ (Christophe Barratier, 2004) und insbesondere Peter Weirs „Der Club der toten Dichter“ (1989). Ähnlich dem Englischlehrer in Weirs Film versucht auch Ian in „Imagine“, seine Schüler durch einen Perspektivenwechsel die Welt neu entdecken zu lassen. Dennoch ist „Imagine“ hauptsächlich ein Film über die Kraft der Imagination, die dazu hilfreich oder sogar erforderlich ist, um die Welt eigentlich zu verstehen. Was allerdings auch die Frage miteinschließt, ob diese Vorstellungskraft ein richtiges oder eher ein trügerisches Bild von der Wirklichkeit vermittelt.

„Imagine“ wurde auf dem Filmfestival Warschau 2012 mit dem Preis für die Beste Regie und mit dem Publikumspreis ausgezeichnet.
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