NORDSTRAND | Nordstrand
Filmische Qualität:   
Regie: Florian Eichinger
Darsteller: Daniel Michel, Martin Schleiß, Luise Berndt, Anna Thalbach, Rainer Wöss, Martina Krauel
Land, Jahr: Deutschland 2013
Laufzeit: 89 Minuten
Genre: Dramen
Publikum: ab 16 Jahren
Einschränkungen: --
im Kino: 1/2014


José García
Foto: farbfilm

In einem allem Anschein nach lange nicht mehr bewohnten Haus an der Nordseeküste treffen sich nach langer Zeit zwei Brüder: Der 30-jährige Marten (Martin Schleiß) möchte den um drei Jahre jüngeren Volker (Daniel Michel) dazu bewegen, gemeinsam ihre Mutter aus dem Gefängnis abzuholen, die seit dem Tod des Vaters in Haft sitzt. Was in dieser Familie vor Jahren geschah, deutet in seinem Spielfilm „Nordstrand“ Regisseur und Mit-Drehbuchautor Florian Eichinger mit einer Rückblende an: Marten und Volker werden von den Eltern erwischt, als sie den Schnaps ihres Vaters ausprobieren wollen. Der Vater (Rainer Wöss) reagiert verärgert. Als die Wohnzimmertür vor der Mutter geschlossen wird, kann sich der Zuschauer denken, was folgt. „Nordstrand“ handelt von häuslicher Gewalt.

„Ich habe mitbekommen, dass es bei Euch Probleme gab“, sagt denn auch bald darauf Enna (Luise Berndt), Volkers Jugendliebe, die noch immer in dem Ort wohnt. Sie ist inzwischen verheiratet und Mutter einer Tochter. Ennas Aussage gibt einen weiteren Hinweis, damit sich der Zuschauer die Ereignisse in Martens und Volkers Kindheit zusammenreimen kann. Denn Eichinger liefert nur wenige Anhaltspunkte, um die Vergangenheit zu rekonstruieren – kurze Rückblenden, die etwa Volker kopfüber im Küchenabfalleimer oder mit einer blutigen Nase zeigen, der die ihn trösten wollende Mutter (Anna Thalbach) schroff von sich abweist. Bleiern liegt die vergangene Gewalt über dem Landhaus. Sie steht genauso zwischen den beiden Brüdern. Denn trotz allen Versuchen Martens lässt sich Volker nicht überreden: Er ist nur zurückgekommen, um das Haus zu verkaufen und damit einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen.

Es ist Enna, die immer wieder versucht, das gespannt-kühle Verhältnis zwischen den Brüdern aufzulockern und Volker, den sie offenbar all die Jahre nicht vergessen hat, zu verstehen. Denn der Jüngere wirft noch immer seiner Mutter vor, ihn vor den Misshandlungen des Vaters nicht beschützt zu haben: „Sie hat uns immer allein gelassen“, sagt er bitter zu seinem Bruder. Er kann nicht verstehen, warum Marten nach all den leidvollen Erfahrungen an Haus und Familie festhalten will. Für Marten wird die erwünschte Versöhnung mit Volker freilich langsam dringend: Bei seinem chronischen Lungenleiden traten zuletzt größere Komplikationen auf. Wie sich die Krankheit entwickeln wird, bleibt freilich ungewiss. Als Marten ein Päckchen heimlich öffnet, das ihm Volker für die Mutter mitgegeben hatte, werden ihm Volkers tiefe Verletzungen schmerzlich bewusst.

Über das gegenwärtige Leben der zwei Brüder erfährt der Zuschauer so gut wie nichts. Es zählt nur das von der Vergangenheit bestimme Verhältnis zwischen ihnen. Das Kammerspiel der zwei Brüder wird nur von den Gesprächen mit Enna und vom Besuch einer Art Gemeindeschwester unterbrochen. Die Außenstehenden helfen dazu, dass sich die zwei Brüder ihre innere Verfasstheit bewusster machen. Regisseur Eichinger lässt darüber hinaus alles aus, was von den zwei Figuren ablenken könnte. Er überlässt das Feld seinen beiden Hauptdarstellern, die eine sehr komplexe Beziehung zwischen Brüdern glaubwürdig verdeutlichen. Dazu führt Florian Eichinger aus: „Mir ist wichtig, die Dinge nicht allzu sehr zu vereinfachen. Es gibt bei dieser Thematik schon genug Vorurteile. Gut-Böse-Schemata und Täter-Opfer-Klischees, die mit der Wirklichkeit nur wenig zu tun haben.“

Denn Volker hegt nicht nur offenen Groll gegen die sich immer wieder abwendende Mutter, sondern ist auch womöglich wegen Martens Untätigkeit verbittert. Jedenfalls gibt sich der ältere Bruder eine gewisse Schuld wegen seiner Untätigkeit: „Ich habe hingenommen, dass Du das Opfer bist“. Denn solange der Vater den Jüngeren terrorisierte, blieb Marten unbehelligt. Hätte er eingreifen sollen? Warum hat er seinem jüngeren Bruder nicht zu schützen versucht? Nach außen scheint Volker das Geschehene zu verdrängen. Die Gewissensbisse machen aber aus Marten den Schwächeren der Brüder, obwohl er angeblich keinen Schaden davon trug. Dies wird etwa an einer „Gattaca“-Wette deutlich. Wie im Spielfilm „Gattaca“ (Andrew Niccol, 1997) schwimmen die zwei Brüder ins offene Meer. Wer als Erster umkehrt, hat verloren. Volker erweist sich als derjenige von den beiden mit der größeren Ausdauer – schließlich musste er jahrelang Einiges ertragen. Der Jüngere kann auch mit der Vergangenheit offener umgehen. Im Laufe der Zeit hat er Verdrängungsmechanismen entwickelt, die Marten nicht kennt.

„Nordstrand“ kreist um das komplexe Verhältnis zwischen Marten und Volker, das von den Fragen nach Schuld und Vergebung geprägt ist. Dabei verschließt sich Florian Eichingers Film jeder Vereinfachung. Die Traumata der Vergangenheit belasten die beiden Brüder auf je eigene Art. Während das eigentliche Opfer einfach nach vorne schauen und die Vergangenheit hinter sich lassen will, kann der Ältere nicht einfach einen solchen Schlussstrich machen, weil er an seiner Untätigkeit schwer trägt. Dies stellt ebenso tiefgründige Fragen über die Belastungen, die Schuld hinterlässt. Florian Eichinger stellt diese Fragen, ohne allerdings eine eindeutige Antwort zu geben, die er dem Zuschauer überlässt.
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