BERLINALE 2014 -– WETTBEWERB | Berlinale 2014 - Wettbewerb
Filmische Qualität:   
Regie:
Darsteller:
Land, Jahr: 0
Laufzeit: 0 Minuten
Genre:
Publikum:
Einschränkungen:
im Kino: 2/2014


José García
Foto: Berlinale

Kinder und Jugendliche im Mittelpunkt

Selten herrschte unter den Kritikern eine solche Einigkeit darüber, wer den ersten Preis im Berlinale-Wettbewerb hätte gewinnen sollen. Wäre es nach ihnen gegangen, hätte die Internationale Jury den Goldenen Bären an Richard Linklater für „Boyhood“ verleihen sollen. Bei der feierlichen Preisverleihung am Samstagabend erhielt „Boyhood“ jedoch nicht den Goldenen Bären – dieser ging an den chinesischen Film „Black Coat, Thin Ice“ –, sondern „nur“ den Silbernen Bären für die Beste Regie und nebenbei den „Preis der Leserjury der Berliner Morgenpost“.

Linklaters Film erzählt aus der Sicht des zu Beginn der Handlung sechsjährigen Mason (Ellar Coltrane) die Geschichte einer Kindheit – von Masons Einschulung bis zum Ende der High school und seinem Einzug ins College mit 18 Jahren. Das Besondere an diesem Film: Richard Linklater drehte „Boyhood“ über einen Zeitraum von zwölf Jahren. In unregelmäßigen Abständen versammelte er seine vier Hauptdarsteller für ein paar Drehtage (insgesamt wurden es 39), um mit ihnen Masons Kindheit, aber auch die Familiengeschichte zu erzählen. Am Anfang lebt Mason mit seiner Mutter (Patricia Arquette) und seiner um zwei Jahre älteren Schwester Samantha (Lorelei Linklater, die Tochter des Regisseurs) zusammen. Der von der Familie getrennt lebende Vater (Ethan Hawke) führt ein verspätetes Hippie-Leben in Alaska. Linklater lässt immer wieder – manchmal etwas plakativ – Orientierungshilfe in seinen Film einfließen, um den Fortgang der Zeit zu verdeutlichen: Vom Irakkrieg über das Erscheinen von „Harry Potter und der Halbblutprinz“ und der „Twillight“-Bücher bis zum Obama-Wahlkampf und der Erfindung des iPhones. Zwar erzählt Linklater nach einem Drehbuch die Geschichte einer frei erfundenen Familie. „Boyhood“ versprüht jedoch eine selten im Kino gesehene Wahrhaftigkeit. Obwohl in „Boyhood“ nichts Spektakuläres geschieht, oder vielleicht gerade deshalb, verfolgt der Zuschauer während der zweidreiviertel Stunden gebannt die Entwicklung eines Mittelschichtsjungen aus den ländlichen Vereinigten Staaten (der Film spielt in Texas), der langsam erwachsen wird, aber auch die Höhen und Tiefen einer Kindheit in einer sogenannten Patchworkfamilie. Zu den emotionalsten Augenblicken gehört etwa die Trennung der Mutter von ihrem zweiten Mann, einem ebenfalls alleinerziehenden Vater mit zwei Kindern im Alter von Mason und Samantha. Nachdem sie Jahre lang wie Geschwister mit ihnen zusammengelebt hatten, müssen sich Samantha und Mason von ihnen auf Nimmerwiedersehen verabschieden. Auch der letzte Dialog Masons mit seinem Vater („Eure Mutter hätte mit mir nachgiebiger, geduldiger sein sollen“) zeugt von der Sehnsucht nach der intakten Familie. Mason antwortet: „Das hätte mir die betrunkenen A... gespart.“ In „Boyhood“ wandelt Richard Linklater Jean Cocteaus geläufige Definition des Kinos – „dem Tod bei der Arbeit zusehen“ – ab: Sein Film schaut dem Leben bei der Arbeit zu. Ein Filmjuwel!

Nicht nur in „Boyhood“ standen Kinder im Mittelpunkt. So erzählt der deutsche Wettbewerbsbeitrag „Jack“ (Regie: Edward Berger) vom zehnjährigen Jack (Ivo Pietzcker), der für sich und seinen kleinen Bruder Manuel die Verantwortung übernehmen muss, weil die alleinerziehende Mutter (Luise Heyer) völlig überfordert ist. Mit einer interessanten Mischung aus langen Plansequenzen und elliptischen, schnellgeschnittenen Szenen beschreibt „Jack“ nicht nur die Vernachlässigung der Kinder durch eine eigentlich liebevolle Mutter. Der Film liefert ebenso ein Porträt einer ziel- und orientierungslosen Generation, die mit dem Chaos in ihrem eigenen Leben mehr als genug zu tun hat, um sich auch noch um ihre Kinder zu kümmern. „Jack“ stellte einen der wenigen Höhepunkte in einem eher schwachen Berlinale-Wettbewerb dar. Der elfjährige Ramasan (Ramasan Minkailov) wohnt in „Macondo“ in der gleichnamigen Wiener Flüchtlingssiedlung. Auf Augenhöhe mit ihrem Protagonisten beschreibt Regisseurin Sudabeh Mortezai die Bemühungen des Jungen, die Stelle des im Krieg gefallenen Vaters einzunehmen und für seine Mutter und die kleinen Schwestern zu sorgen.

Von einer schwierigen Mutter-Sohn-Beziehung erzählt „Aloft“, der erste englischsprachige Film der Peruanerin Claudia Llosa, die 2009 für „Eine Perle Ewigkeit“ den Goldenen Bären gewonnen hatte. In ihrem esoterisch angehauchten Film verlässt Nana (Jennifer Connelly) ihren zehnjährigen Sohn, um sich ihren „Heilkräften“ zu widmen. Auf der den Erzählrahmen bildenden zweiten Zeitebene sucht der damals verstoßene Sohn ihre Mutter zwanzig Jahre später. Mit seiner zähfließenden Dramaturgie und den „New Age“-Anleihen gehört „Aloft“ zu den Enttäuschungen dieses Berlinale-Wettbewerbs. Von einem konfliktbeladenen Vater-Sohn-Verhältnis erzählt der argentinische Film „The Third Side oft he River“ (Regie: Celina Murga): Der 16-jährige Nicolás lebt mit seiner Mutter und seinen zwei Geschwistern in relativ einfachen Verhältnissen in der argentinischen Provinz. Nicolás’ Vater führt ein Doppelleben mit zwei Familien: Der angesehene Arzt hat eine zweite Frau und einen weiteren Sohn, die in besseren Verhältnissen leben. Nicolás wird von seinem Vater ausgenutzt, aber irgendwann einmal wird er rebellieren. Eine Beziehung zwischen der 14-jährigen Maria (Lea van Acken) und ihrer Mutter (Franziska Weisz), die als eine besondere Spielart der Kindesmisshandlung bezeichnet werden kann, spielt neben der antikatholischen Haupthandlung eine wichtige Rolle in „Kreuzweg“, dem die Internationale Jury den Silbernen Bären für das Beste Drehbuch verlieh.

Dass in sechs von 23 Wettbewerb-Filmen Kinder und Jugendliche in schwierigen Beziehungen zu ihren Eltern stehen und sehr früh Verantwortung übernehmen müssen, kann als der auffälligste Trend im diesjährigen Berlinale-Wettbewerb benannt werden. Häufig genug zeigte in früheren Jahren die Berlinale Menschen in einer unwirtlichen Welt. Nun müssen sich auch Kinder und Jugendliche in einer solch schwierigen Umgebung behaupten.

Darüber hinaus zeigte der Wettbewerb einige wenige bemerkenswerte Filme wie den herrlich bunten, wunderbar nostalgischen „The Grand Budapest Hotel“ von Wes Anderson, der als Eröffnungsfilm für gute Laune zu Beginn der Berlinale sorgte und mit dem „Silbernen Bären Großer Preis der Jury“ ausgezeichnet wurde, oder den deutschen Beitrag „Zwischen Welten“ (Regie: Feo Aladag), der von Gewissenskonflikten bei Bundeswehrsoldaten in Afghanistan sowie von den Gefahren handelt, denen die für die ausländischen Streitkräfte arbeitenden Afghanen ausgesetzt sind. Bewusst altmodisch inszenierte Yoji Yamada seine Liebesromanze „The Little House“, die im Japan vor und während des Zweiten Weltkrieges angesiedelt ist. Die Schauspielerin Haru Kuroki erhielt für ihre Rolle in diesem Film den Silbernen Bären für die Beste Darstellerin.


Etliche Enttäuschungen

Der diesjährige Berlinale-Wettbewerb kann allerdings auch als ein Jahrgang der Enttäuschungen charakterisiert werden. Ernüchternd fielen nicht nur die bereits erwähnten Filme der lateinamerikanischen Regisseurinnen Celina Murga und Claudia Llosa aus. Insbesondere der lang erwartete „The Monuments Men“ von George Clooney, die Neuinterpretation des Märchens „Die Schöne und das Biest“ (Regie: Christophe Gans) sowie die Neuverfilmung von „Deux hommes dans la ville“ (José Giovanni, 1973) unter dem Titel „La voie de l’ennemi“ (Regie: Rachid Bouchareb) hinterließen trotz schöner, teilweise spektakulärer Bilder und Starbesetzung einen schalen Nachgeschmack. Trotz des Alfred-Bauer-Preises „für einen Spielfilm, der neue Perspektiven eröffnet“ an „Aimer, boire et chanter“ des Regie-Altmeisters Alain Resnais, konnte dieser auch nicht überzeugen: Zu schnell nutzt sich die von der Internationalen Jury offenbar als „neue Perspektive“ empfundene Inszenierung durch eine immer wiederkehrende Abfolge von Autofahrt-aquarelliertes Bild-Theaterbühne, auf der die einzelnen Szenen stattfinden, ab.


Ein österreichischer Western

Einer der gelungensten Filme der diesjährigen Berlinale lief allerdings nicht im offiziellen Wettbewerb, sondern in der „Berlinale Special“ genannten Reihe: Andrea Prochaskas gleichnamige Verfilmung von Thomas Willmanns „Das finstere Tal“, die bereits am Donnerstag im regulären Kinoprogramm anlief. Ende des 19. Jahrhunderts erreicht ein einsamer Reiter ein kleines Dorf hoch oben in den Alpen. Niemand weiß, woher dieser Fremde, der sich Greider (Sam Riley) nennt, kommt und niemand will ihn im Dorf haben. Das Misstrauen der sechs Söhne (darunter Tobias Moretti, Clemens Schick) des Brenner-Bauern (Hans-Michael Rehberg) besänftigt Greider mit einer Handvoll Goldmünzen. Der Fotograf wird bei der Witwe Gader und ihrer jungen Tochter Luzi (Paula Beer) untergebracht. Luzi ängstigt sich vor ihrer bevorstehenden Heirat mit Lukas (Thomas Schubert), denn eine Hochzeit ist in diesem Dorf mit einer menschenverachtenden Tradition verknüpft. Bald geschieht ein tragischer Unfall, bei dem einer der Brenner-Söhne stirbt. Und kurz darauf kommt der nächste Sohn auf mysteriöse Weise um. Dieser „österreichische Western“ besitzt alle Zutaten des klassischen amerikanischen Kinos, obwohl er in einer Hochalpen-Landschaft angesiedelt ist: die Eroberung der Wildnis, der Kampf zwischen Gut und Böse, das Sühnen für eine verwerfliche Tat durch einen „einsamen Rächer“. „Das finstere Tal“ ist ein bis in die Details akribisch ausgestatteter und hervorragend fotografierter Genrefilm.

Auch am Wettbewerb nahm eine Art Western teil: Der chinesische Film „No Man’s Land“ (Regie: Ning Hao) ist zwar in der heutigen Zeit angesiedelt. Die überhandnehmende Gewalt, die breite Wüsten-Landschaft, der Kampf Mann gegen Mann und auch die Spaghetti-Western-Musik gemahnen jedoch an dieses älteste Genre der Kinogeschichte. Zwei als Western inszenierte Filme, einer aus Österreich, einer aus China – auch das kann als Trend bei der diesjährigen, im Großen und Ganzen trotz des Meisterwerks „Boyhood“ enttäuschenden Berlinale bezeichnet werden.
Diese Seite ausdrucken | Seite an einen Freund mailen | Newsletter abonnieren