ENEMY | Enemy
Filmische Qualität:   
Regie: Denis Villeneuve
Darsteller: Jake Gyllenhaal, Mélanie Laurent, Sarah Gordon, Isabella Rossellini
Land, Jahr: Kanada / Spanien 2013
Laufzeit: 90 Minuten
Genre: Thriller
Publikum: ab 16 Jahren
Einschränkungen: S, X
im Kino: 5/2014
Auf DVD: 9/2014


José García
Foto: Capelight

Das Leben des Geschichtslehrers Adam Bell (Jake Gyllenhaal) verläuft in ruhigen, ja eigentlich eher langweiligen Bahnen: Er hält immer wieder die gleichen Vorlesungen am College. Im Privatleben scheint es mit Freundin Mary (Mélanie Laurent) ebenfalls zu einem Stillstand gekommen zu sein – viel zu sagen haben sie sich die beiden eigentlich nicht. Eines Abends geschieht jedoch etwas, was sein eintöniges Leben auf den Kopf stellt: Auf die Empfehlung eines Arbeitskollegen besorgt er sich die DVD eines Spielfilmes. Beim Betrachten des Filmes entdeckt er einen Schauspieler in einer ziemlich kleinen Nebenrolle, der ihm zum Verwechseln ähnlich sieht. Auch seine Stimme kommt ihm sehr vertraut vor. Adam spult den Film vor und zurück, sucht im Nachspann den Namen des Schauspielers, der nur für ein paar Sekunden im Film zu sehen ist. Er recherchiert nach dem Namen „Daniel Saint Claire“ im Internet und findet, dass dieser eigentlich Anthony Clair (ebenfalls Jake Gyllenhaal) heißt.

Da er auch Anthony Clairs Agentur herausfindet, fährt Adam dorthin und macht eine verblüffende Erfahrung: Er wird für den Schauspieler gehalten. Als der Geschichtslehrer beim Schauspieler zu Hause anruft, um sich mit ihm zu verabreden, verwechselt ihn Helen (Sarah Gadon), Anthony Clairs schwangere Frau, ebenfalls mit deren Mann. Adam hatte seinen Studenten von „Chaos und Kontrolle“ in der Geschichte erzählt. Nun droht seine Suche nach dem Doppelgänger zu einer Obsession zu werden, die zu einem Kontrollverlust führt. Ebenfalls scheint sich in seinem Leben ein anderes Wort zu bewahrheiten, das er ebenfalls in seiner Vorlesung benutzt hatte: „Alles wiederholt sich“. Nur dass „seine“ Wiederholung genau das Gegenteil von ihm ist: Wohnt Adam in einer spärlich eingerichtete Wohnung in einem einfachen Stadtviertel, so befindet sich Anthonys neureich eingerichtetes Appartement in einem „besseren“ Viertel. Anthony selbst erweist sich als von sich eingenommener Selbstdarsteller, der an Adams Annährungsversuche zunächst kein Interesse hat. Als er schließlich einem Treffen zustimmt und dann den Spieß umdreht, beginnt ein Verwirrspiel um Identitäten, in dem die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Fantasie immer mehr verschwimmen.

Der Spielfilm „Enemy“ von ¬Javier Gullón (Dreh¬buch) und Denis Villeneuve (Regie) basiert auf dem Roman „Der Doppelgänger“ des portugiesischen Nobelpreisträgers José Saramago. Das Thema des Doppelgängers ist ein bekanntes Sujet in der Filmgeschichte, steht es doch etwa bei Alfred Hitchcock – insbesondere „Im Schatten des Zweifels“ („Shadow of a Doubt“, 1943) und „Der Fremde im Zug“ („Strangers on a Train“, 1951) – hoch im Kurs. Die klassische Interpretation dieses Genres lautet, Verwirrspiele um Doppelgänger stünden für die duale Natur des Menschen. Die wirkliche oder lediglich erdachte Begegnung mit dem Doppelgänger bringe die Kehrseite des Menschen zum Vorschein. Bei „Enemy“ gelingt jedoch dem frankokanadischen Regisseur Denis Villeneuve, es in der Schwebe zu halten, ob sich eine solche Begegnung in der Wirklichkeit oder lediglich in Adams Vorstellung abspielt. Trotz seines ruhigen Erzählflusses vermag der Film die Spannung über die gesamten neunzig Minuten zu halten. Der Regisseur erzeugt Spannung allerdings nicht durch bekannte Psychothriller-Effekte, sondern durch immer neue Wendungen. Immer wenn der Zuschauer zu einer Deutung zu gelangen scheint, widerlegt sie die nächste Szene: Handelt es sich wirklich um zwei verschiedenen Menschen, die zufällig dasselbe Aussehen, ja sogar die gleiche auffällige Narbe auf der Brust besitzen? Hatte Adam gar einen Zwillingsbruder? Um dieser Frage nachzugehen, befragt er seine Mutter (Isabella Rossellini). Oder handelt es sich im Sinne der Doppelgänger-Theorie um eine gespaltene Persönlichkeit?

Dazu führt Regisseur Villeneuve aus: „Wenn Adam zum ersten Mal auf Anthony trifft, muss das Publikum die gesamte Wirkung und Last dieser surrealen Situation spüren. Es geht alles um Gegenwart, um Präsenz. Sich selbst zu begegnen, ist ein Phänomen, das bei Menschen die gleiche Wirkung auslösen sollte wie ein schwarzes Loch auf eine Galaxie. Eine tiefe existentielle Krise muss sich langsam um Adam legen. Diese existentielle Krise und die Depression sind ein Teil der Hauptfigur, auch wenn es in den Dialogen überhaupt nicht erwähnt wird.“

Die Frage nach der Identität erhält weitere Dringlichkeit durch eine Inszenierung, die eine Stimmung der Anonymität betont. Kameramann Nicolas Bolduc fängt riesige Hochhäuser ein, die zusammen mit der bedrohlich klingenden Filmmusik von Danny Bensi und Saunder Jurriaans eine Anmutung des Unheimlichen, der Beklemmung versprühen. Im Zusammenwirken des Labyrinths aus Hochhäusern mit den engen Wohnungen entsteht darüber hinaus ein klaustrophobisches Gefühl, das noch durch die gelb-braunen Farbfilter gesteigert wird, die Nicolas Bolduc einsetzt. Darüber hinaus benutzen die Filmemacher eine überdimensionale Spinne als Symbol, dessen Bedeutung allerdings ebenfalls offen bleibt. Dazu führt Drehbuchautor Javier Gullón aus: „Die Spinnen-Symbolik kann auf vielfältige Weise interpretiert werden. Ich denke, dass die Menschen letztendlich ihre eigene Bedeutung finden werden. Jeder Zuschauer wird etwas anderes darin sehen und entdecken.“

„Enemy“ lässt viele Fragen offen. Das Verwirrspiel um Identitäten und Symbole macht aus Denis Villeneuves Film einen teilweise verstörenden Psychothriller, der den Zuschauer zur Auseinandersetzung mit dem Gesehenen herausfordert.
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