NO TURNING BACK | Locke
Filmische Qualität:   
Regie: Steven Knight
Darsteller: Tom Hardy
Land, Jahr: Großbritannien 2013
Laufzeit: 86 Minuten
Genre: Dramen
Publikum: ab 16 Jahren
Einschränkungen: --
im Kino: 6/2014


José García
Foto: Studiocanal

Schichtende auf einer großen Baustelle, die sich – wie der Zuschauer später erfahren wird – in Birmingham befindet. Ivan Locke (Tom Hardy) zieht die klobigen Arbeitsstiefel aus und steigt in einen BMW mit dem bezeichnenden Auto-Kennzeichen „ADIO“ ein. Denn die Fahrt, die er nun unternimmt, könnte auch ein „Auf Nimmerwiedersehen“ bedeuten. Ivan Locke befindet sich auf dem Weg nach London zur Geburtsklinik, in der er zum dritten Mal Vater werden soll. Die Mutter des Kindes ist jedoch nicht seine Ehefrau Katrina, sondern eine Frau namens Bethan, die er kaum kennt. Sie unterstützte ihn bei einem Projekt. Mit ihr verbrachte er, ohne sie sonderlich attraktiv zu finden, eine einzige Nacht. Ivan Locke weiß nur zu gut, dass sein Verhalten verkehrt war: „Ich habe mich falsch verhalten, anders als ich bin.“ Dennoch stellt er sich seiner Verantwortung: „Aber jetzt muss ich mich richtig verhalten. Ich kümmere mich um meinen Fehler“.

Drehbuchautor und Regisseur Steven Knight, der bei den Oscars 2004 für sein Drehbuch zu „Dirty Pretty Things“ nominiert wurde, enthüllt in „No Turning Back“ (Originaltitel: „Locke“) nach und nach das Leben eines Mannes, der einen Fehltritt begangen hat, für den er aber einzustehen bereit ist. In Echtzeit zeigt Steven Knight die etwa 80-minütige Autofahrt von Birmingham nach London aus der Sicht von Ivan Locke. Dies ist ganz wörtlich gemeint: Der einzige Schauspieler, der während des gesamten Filmes ins Bild kommt, ist Tom Hardy. Die anderen Figuren, die mit ihm interagieren, sind lediglich als Stimme zu hören. „No Turning Back“ nimmt sich als Kammerspiel im Innenraum eines Autos aus. Der Baustellenleiter soll eine für den nächsten Morgen angekündigte Beton-Großlieferung organisieren, mit der das Fundament für ein riesiges Hochhaus gegossen werden soll. Bei der Lieferung ist es allerdings entscheidend, dass es sich um die richtige Betonmischung (C6) handelt. Das schärft er seinem jungen, dem Alkohol zugeneigten Kollegen Donal ein ums alle Mal ein, der ihn bei der Betonlieferungsabnahme vertreten soll. Weil er sich nicht hundertprozentig auf Donal verlassen kann, telefoniert Ivan Locke auch mit Polizei- und Gemeindebeamten, die ihre Unterstützung zugesagt hatten. Allerdings muss er sich vor seinem Chef Gareth rechtfertigen, der ihm Verantwortungslosigkeit vorwirft, weil Ivan an diesem so wichtigen Arbeitstag nicht auf der Baustelle sein wird.

Auch privat löst Ivans Schnellentschluss ein Erdbeben aus: Seine nichtsahnende Familie erwartet ihn am Abend, um die Übertragung eines wichtigen Fußballspiels im Fernsehen gemeinsam zu verfolgen. Da muss Ivan zunächst seinem Sohn erklären, dass er doch nicht pünktlich zum Anpfiff kommen wird. Gespannter verläuft das Telefongespräch mit seiner Frau Katrina, die von der neuen Vaterschaft ihres Mannes gar nichts ahnte. Sie reagiert hysterisch, verlangt sofort die Scheidung. Nicht minder hysterisch verhält sich allerdings auch die werdende Mutter Bethan. Weil sie nicht mehr die Jüngste ist und sonst niemand anderen hat, schreit sie förmlich nach Ivans Anwesenheit bei der Geburt. Die aus seinem Fehltritt erwachsene Verantwortung will Ivan zwar wahrnehmen. Nur eins kann er nicht: Bethan die geforderte Liebeserklärung zu geben. Denn er kennt sie ja kaum. Außerdem liebt Ivan Locke seine Frau.

Kameramann Haris Zambarloukos beleuchtet den Autoinnenraum aus unterschiedlichen Perspektiven, lässt durch verschiedene Spiegelungen auf der Windschutzscheibe und außerhalb des Autos und vor allem durch aus allen möglichen Blickwinkeln fotografierte Großaufnahmen von Tom Hardy, die sich im unauffälligen Schnitt von Justine Wright zu einer fließenden Einheit zusammenfügen, Spannung aufkommen. Zum Gesamteindruck trägt darüber hinaus wesentlich die Filmmusik von Dickon Hinchliffe bei. Der Zuschauer nimmt sozusagen Platz auf dem Beifahrersitz des Autos und erlebt dadurch eine spannende Charakterzeichnung.

Das wichtigste Element bei „No Turning Back“ ist in diesem 86-minütigen Kammerspiel jedoch nicht das visuelle Konzept, sondern die Dramaturgie: Steven Knight verknüpft dabei die drei Handlungsstränge – die Logistik auf der Baustelle, das sich abzeichnende Drama mit seiner Frau und seinen Kindern sowie die komplizierte Beziehung zur Mutter seines dritten Kindes – meisterhaft miteinander, die darüber hinaus vom unaufgearbeiteten Verhältnis zu seinem verstorbenen Vater überlagert werden. Denn zu den Telefonaten kommen noch die imaginären Zwiegespräche mit ihm, vor dessen Fehlern er sich sein ganzes Leben lang abgrenzen wollte. Wie bei jedem Einpersonenstück steht und fällt die Inszenierung mit dem Darsteller. Mit dem für Ingenieure typischen karierten Hemd und dem unauffälligen Baumwollpullover gestaltet Tom Hardy seinen Ivan Locke als Jedermann, der unversehens in eine Extremsituation gerät und mit allen Mitteln versucht, sich nicht aus dem Konzept bringen zu lassen. Tom Hardy spielt gekonnt die Klaviatur unterschiedlicher Empfindungen. Muss er auch seiner Frau Katrina zustimmen („Der Unterschied zwischen niemals und einmal ist der Unterschied zwischen Gut und Schlecht“), so versucht er das weniger Falsche zu tun: „Man kann jede Situation zum Besten wenden.“

„No Turning Back“ wurde 2013 mit dem „British Independent Film Award“ in der Kategorie „Bestes Drehbuch“ ausgezeichnet sowie auf den Filmfestivals von Göteborg und Sydney im Jahre 2014 für den besten Film nominiert.
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