JUNGE SIYAR, DER | Før snøen faller, Before snowfall
Filmische Qualität:   
Regie: Hisham Zaman
Darsteller: Taher Abdullah Taher, Suzan Ilir, Bahar Özen
Land, Jahr: Norwegen, Deutschland, Irak 2013
Laufzeit: 105 Minuten
Genre: Dramen
Publikum: ab 12 Jahren
Einschränkungen: --
im Kino: 9/2014
Auf DVD: 2/2015


José García
Foto: barnsteiner-film

Ein Heranwachsender wird vollständig in durchsichtiger Folie eingewickelt. Die etwas grobkörnigen Bilder ohne Dialoge und ohne Musik wirken auf den Zuschauer rätselhaft. Darauf folgt vollständige Dunkelheit: Der Junge wird in einem Öltanklastwagen vom Irak in die Türkei geschmuggelt. Sein Reiseziel: Istanbul. Von der Grenze bis dorthin muss er sich allerdings alleine durchschlagen. Erst die darauffolgende Rückblende verdeutlicht, warum er diese beschwerliche Reise auf sich nimmt: Der Junge heißt Siyar (Taher Abdullah Taher) und lebt mit seiner Mutter und seinen zwei Schwestern in einem kleinen Dorf im kurdischen Norden des Iraks, wo nach Saddam Husseins Sturz etwa 4,5 Millionen Kurden eine Autonome Region bilden – und deshalb in größerer Selbstverwaltung leben als die Kurden in der Türkei, im Iran und in Syrien.

Die von „ethnischer“ Musik unterstützten Bilder zeigen eine karge Berglandschaft, in der insbesondere Schafe weiden. Der erst 16-jährige Siyar ist seit dem Tod seines Vaters als einziges männliches Mitglied der Familie deren Oberhaupt. Deshalb liegt es an ihm, der Heirat seiner älteren Schwester Nermin (Baher Özen) zuzustimmen, als der offenbar reiche Stammesführer Aga aus dem Nachbardorf für seinen Sohn um die Hand Nermins anhält. Nermin hat jedoch andere Pläne: Sie flieht zusammen mit ihrer wahren Liebe aus dem Dorf. Siyar muss der Familie des Bräutigams die Schande eingestehen. Als der einflussreiche Patriarch ihn auf die Reise schickt, um seine Schwester Nermin zu finden und zu töten, zögert Siyar keinen Augenblick. Denn nur so kann die Familienehre wiederhergestellt werden.

Im chaotischen Durcheinander der Großstadt Istanbul fühlt sich Siyar sichtlich verloren, so verloren wie der Film ihn bei seiner Ankunft in der Türkei in einer wunderschönen Landschaft zeigt. Türkisch spricht er zwar nicht. Da aber in Istanbul mehr als zwei Millionen Kurden leben, kann er Erkundigungen über seine Schwester einziehen. Als er erfährt, dass sie nach Europa weitergereist ist, nimmt er Kontakt mit kurdischen Schleppern auf, die ihn bei nächster Gelegenheit über Griechenland weiterschleusen werden. In Istanbul lernt Siyar aber auch das als Junge verkleidete Straßenmädchen Evin (Suzan Ilir) kennen, die als in der Türkei aufgewachsene junge Kurdin eine ganz andere Sicht auf die Welt hat als Siyar. Evin ergreift die Gelegenheit, zusammen mit Siyar nach Europa geschmuggelt zu werden. Denn sie wünscht sich nichts sehnlicher, als ihren in Berlin lebenden Vater kennenzulernen. Die Reise endet aber nicht in Deutschland. Dort erfährt Siyar, dass seine Schwester weiter nach Norwegen gereist und nun in Oslo lebt. Nach anfänglicher Abneigung empfindet der schüchterne Siyar eine bisher unbekannte Zuneigung zur zupackenden und hübschen neuen Begleiterin.

In seinem Spielfilmdebüt „Der junge Siyar“ zeichnet Regisseur und Mit-Drehbuchautor Hisham Zaman nicht nur das Porträt eines in die Traditionen seines Volkes verstrickten Heranwachsenden, der im Laufe der Filmhandlung merklich reift. Der Filmdebütant Taher Abdullah Taher hält hervorragend die Balance zwischen Schüchternheit und einer Zielstrebigkeit, die sich etwa in einem sehr bestimmten Gang ausdrückt und eine große Willenskraft ausstrahlt. Taher Abdullah Taher gelingt es außerdem, den Zuschauer im Unklaren zu lassen, ob er weiterhin an seinem Vorhaben festhält oder auf seiner Reise neue Erkenntnisse gewonnen hat, die ihn davon abhalten könnten. Schließlich empfindet er in seiner aufkeimenden Liebe zu Evin etwas Ähnliches wie seine Schwester.

Zwar bleibt dem europäischen Zuschauer Manches aus der fernen Kultur unverständlich. Dies mag daran liegen, dass mit Evins Ausnahme alle anderen Menschen, denen Siyar auf seiner Reise begegnet, ja sogar Nermin ohne Konturen bleiben. Die Kamera von Marius Matzow Gullbrandsen liefert beeindruckende Landschaftsaufnahmen, bleibt aber sonst konsequent nahe an Siyar und Evin. Der 1975 im Nordirak geborene Regisseur Hisham Zaman floh selbst mit seiner Familie nach Istanbul, wo sie in Armut lebten, ehe sie nach Norwegen auswanderten. In seinem ersten Langspielfilm thematisiert er einerseits durch Siyars Reise die Konfrontation zwischen Ost und West, andererseits durch die Beziehung zwischen Siyar und Evin den Zusammenprall zwischen Tradition und Moderne.

Dramaturgisch mag zwar die zarte Liebesgeschichte die Frage in den Hintergrund drängen, ob Siyar den Ehrenmord tatsächlich begehen wird. Weil Evin jedoch Siyar von seiner Absicht, Nermin zu töten, abzuhalten versucht, verdeutlicht ihre Freundschaft das Aufeinandertreffen zweier verschiedener Welten mit ihren unterschiedlichen Wertvorstellungen: Siyar ist in einer ländlichen Welt aufgewachsen, in der archaische und patriarchale Strukturen und Traditionen die Menschen prägen. Evin hat einen anderen Hintergrund; sie steht für die Generation von jungen Kurden in der Türkei, die innerhalb des türkisch-kurdischen Konflikts der letzten zwanzig Jahre geboren und aufgewachsen sind. Mit seinem Film macht Hisham Zaman darüber hinaus auf den Geschlechterunterschied in dieser patriarchal geprägten Gesellschaft aufmerksam: Mit der Unerbittlichkeit der Männer kontrastiert das Mitgefühl der Frauen.

„Der junge Siyar“ erhielt mehrere Preise auf internationalen Filmfestivals. Darüber hinaus wurde Taher Abdullah Taher beim Filmfestival Mannheim-Heidelberg 2013 mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet.
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