STILL ALICE – MEIN LEBEN OHNE GESTERN | Still Alice
Filmische Qualität:   
Regie: Richard Glatzer, Wash Westmoreland
Darsteller: Julianne Moore, Kristen Stewart, Alec Baldwin, Kate Bosworth, Seth Gilliam, Hunter Parrish
Land, Jahr: USA 2014
Laufzeit: 101 Minuten
Genre: Dramen
Publikum: ab 12 Jahren
Einschränkungen: --
im Kino: 3/2015
Auf DVD: 7/2015


José García
Foto: polyband

Beim fünften Anlauf nahm Julianne Moore vergangene Woche endlich den Oscar für ihre Darstellung einer an Alzheimer erkrankten Universitätsprofessorin in „Still Alice – Mein Leben ohne Gestern“ entgegen. Unabhängig von der bekannten Vorliebe der Academy-Mitglieder, Darstellungen von leidenden Menschen im Allgemeinen und von unheilbar Kranken im Besonderen auszuzeichnen, kann diese Entscheidung als völlig begründet angesehen werden.

Alice Howland ist nicht nur weltweit eine Kapazität in ihrem Fach, der Linguistik. Privat genießt die Professorin an der New Yorker Columbia-Universität darüber hinaus ein intaktes Familienleben, wie es bei ihrer 50. Geburtstagsfeier zum Ausdruck kommt. Ihr Mann John (Alec Baldwin), selbst ein angesehener Mediziner, bezeichnet sie als „die schönste und intelligenteste Frau, die mir begegnet ist.“ Die älteste Tochter Anna (Kate Bosworth) freut sich auf ihr erstes Kind, denn sie ist seit kurzem schwanger. Sohn Tom (Hunter Parrish) folgt beruflich dem Vater. Bald wird er der Familie seine Freundin vorstellen. Nur die jüngste Tochter Lydia (Kristen Stewart) bereitet Alice Sorgen, die sich mit Lydias Berufswahl als Schauspielerin in Los Angeles nicht anfreunden kann. Dennoch verstehen sich Mutter und Tochter letztlich gut.

In diese unbeschwerte Lebenssituation platzt Alices Erkrankung zunächst schleichend, später mit aller Wucht hinein. Es beginnt damit, dass bei einer Gastvorlesung der Professorin ein Wort nicht einfallen will. Zwar kommt sie doch noch bald darauf. Alice sieht es jedoch wenig später als erstes Anzeichen, dass irgendetwas bei ihr nicht stimmt, als sie beim Joggen die Orientierung verliert – obwohl sie diese Strecke fast jeden Tag läuft. Bald erhält sie vom Neurologen die niederschmetternde Diagnose: Alzheimer in einem frühen Stadium. Lange können Alice und ihr Ehemann John nicht damit warten, ihren Kindern die Wahrheit zu sagen – auch deshalb, weil diese Form der Krankheit vererbbar ist, deshalb die Kinder auch davon direkt betroffen sein könnten.

Basierend auf dem 2007 erschienenen Debütroman der Neurowissenschaftlerin Lisa Genova erzählt das Regisseurduo Richard Glatzer und Wash Westmoreland überwiegend aus der Sicht der Kranken. Dies wird besonders deutlich beim ersten Besuch Alices beim Neurologen: Die Kamera zeigt sie in Frontalansicht, ohne dass der Zuschauer den Arzt sieht. Auch später wird die Kamera von Denis Lenoir mehrfach Alices Gesicht in Großaufnahme fixieren, etwa wenn sie ein Video mit Anweisungen an sich selbst für ein späteres Stadium der Krankheit aufnimmt.

Gerade in der Szene mit den „zwei“ Alices wird Julianne Moores eindrückliches und wandlungsfähiges Spiel besonders deutlich. Die Kranke ist zwar „immer noch“ Alice, wie der Filmtitel suggeriert. Aber ihre Persönlichkeit befindet sich im Schwinden. Auch sonst rückt die konsequente Erzählung aus der Sicht der Kranken selbst Alices Darstellerin Julianne Moore ganz in den Mittelpunkt. „Am wichtigsten war uns dabei“, so Regisseur Wash Westmoreland, „die Subjektivität von Alices Erfahrung. Das Publikum sollte ihre Sicht auf das Geschehen verstehen und Einblicke in ihr Innenleben bekommen, die die anderen Figuren der Geschichte nicht zwingend haben.“

Mit minimalen Gesten und Blicken meistert Julianne Moore das Fortschreiten der Alzheimer-Erkrankung deshalb so außerordentlich, weil sie nachvollziehbar macht, dass ihr durch die Krankheit nach und nach ihr altes Leben entgleitet. Richard Glatzer und Wash Westmoreland schildern dies alles linear und ohne inszenatorische Schnörkel. Rührseligkeit kommt in ihrem Film ebenfalls kaum vor – bis auf eine Szene, als Alice bei einer Alzheimer-Gesellschaft einen unter die Haut gehenden Vortrag hält.

Im Unterschied etwa zu Sarah Polleys Alzheimer-Film „An ihrer Seite“ (siehe Filmarchiv), der eigentlich aus der Perspektive vom Ehemann der Kranken den Krankheitsverlauf schildert und auch einen weit in der Vergangenheit zurückliegenden Konflikt aufarbeitet, konzentriert sich „Still Alice – Mein Leben ohne Gestern“ ausschließlich auf die Hauptfigur. Dies hat allerdings zur Folge, dass die anderen Figuren ziemlich blass bleiben. Alec Baldwin beispielsweise bleibt kaum Raum zur schauspielerischen Entfaltung. Dadurch
bleiben außerdem einige Konflikte – etwa das Angebot einer Universität an John gerade in dem Augenblick, als Alices Krankheit fortschreitet – auf der Strecke. Lediglich Kristen Stewart genießt entsprechende Leinwandzeit, um die von ihr verkörperte jüngste Tochter Lydia nicht nur eindimensional zu gestalten. Denn überraschenderweise ist es die zunächst distanzierte Lydia, die ihre Schauspielkarriere in Kalifornien ruhen lässt, um ihre Mutter zu betreuen. Das Sich-Näher-Kommen von Mutter und Tochter verleiht erst „Still Alice – Mein Leben ohne Gestern“ eine Warmherzigkeit, die der Film über weite Strecken vermissen lässt. Denn wohl um der Rührseligkeit aus dem Weg zu gehen, inszeniert das Regisseurduo ihren Film betont sachlich. Dies erschwert dem Zuschauer zuweilen den Zugang. Durch die beinahe leidenschaftslose Konzentration auf die Hauptfigur, auf ihren nüchtern in Szene gesetzten Leidensweg bietet „Still Alice – Mein Leben ohne Gestern“ jedoch eine der besten schauspielerischen Leistungen des Filmjahres.
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