JUDGMENT – GRENZE DER HOFFNUNG | Sadilishteto
Filmische Qualität:   
Regie: Stephan Komandarev
Darsteller: Assen Blatechki, Ovanes Torosian, Miki Manojlovic, Ina Nikolova, Paraskeva Djukelova, Meto Jovanovski, Vasil Vasilev-Zuek
Land, Jahr: Deutschland, Bulgarien, Kroatien, Makedonien 2014
Laufzeit: 107 Minuten
Genre: Dramen
Publikum: ab 16 Jahren
Einschränkungen: --
im Kino: 4/2015


José García
Foto: farbfilm

Zu Ostblock-Zeiten versuchten insbesondere viele DDR-Bürger, durch die bulgarisch-türkische Grenze in den Westen zu gelangen. Schätzungsweise 4 500 DDR-Bürger probierten zwischen 1961 und 1989 an der vormals grüne Grenze zwischen der Türkei, Bulgarien und Griechenland ihr Glück. Mit Hilfe auch der DDR-Regierung wurde deshalb die Grenze besonders befestigt. Sie wurde von meist jungen Grenztruppen streng bewacht, die auch den Schießbefehl ausführten. In diesen etwa drei Jahrzehnten kamen etwa 100 Menschen ums Leben, nur gut drei Prozent gelang die Flucht. Heute ist es genau umgekehrt: Flüchtlinge vor allem aus Syrien, aber auch aus Afghanistan und Afrika werden seit dem EU-Beitritt Bulgariens im Jahre 2007 durch genau dieselbe Grenze in den EU-Raum eingeschleust. „So ändern sich die Zeiten“, heißt es dazu in der bulgarisch-deutsch-kroatisch-makedonischen Koproduktion „Judgment – Grenze der Hoffnung“. Der Spielfilm von Stephan Komandarev ist in der vom Nebel umgebenen Berglandschaft an eben dieser Grenze angesiedelt. Dabei sind teilweise diejenigen, die früher die Grenze bewachten, heute an den Schleusergeschäften beteiligt. So beispielsweise der „Kapitan“ (Miki Manojlovic): „Ich habe die Grenze 30 Jahre lang bewacht. Da ist keiner weggegangen.“ Heutzutage bewohnt er eine luxuriöse, gut gesicherte Villa. Bezahlt hat er sie offenbar nicht allein mit seinem Offiziersgehalt. Denn der Kapitan stellt sich als führender Kopf im Hintergrund einer Schleuserorganisation heraus.

An ihn muss sich nun der etwa mittvierzigjährige Mityo (Assen Blatechki) wenden, nachdem die Molkerei dicht gemacht wurde, für die er als Fahrer gearbeitet hat. Mityo bleibt offensichtlich kein anderer Ausweg, will er noch sein Haus behalten. Sein Gesuch um Stundung der Zinsen und Raten für einen Kredit hat die Bank abgelehnt. Er muss so schnell wie möglich 7 000 Euro auftreiben, soll das Haus nicht gepfändet werden. Sein 18-jähriger Sohn Vasko (Ovanes Torosian) wirft ihm die missliche finanzielle Lage vor. Was Vasko nicht weiß: Mityo nahm damals den Kredit wegen der hohen Krankheitskosten für seine schwererkrankte Frau auf. Seit ihrem Tod haben sich Vater und Sohn auseinandergelebt. Seit er sich in seine Mitschülerin Maria (Ina Nikolova) verliebt hat, verbringt Vasko ohnehin nicht viel Zeit zuhause.

Dass Mityo das Angebot seines ehemaligen Offiziers nur aus der Not heraus und äußerst ungerne annimmt, hängt nicht nur mit den Risiken einer Schleuser-Tätigkeit, sondern auch mit der schmerzlichen Vergangenheit zusammen. Vor der Wende gehörte er zu den Grenztruppen unter dem „Kapitan“. Dort an einem Felsen, der auf Englisch „The Judgment“, auf Bulgarisch aber „Sadilishteto“ („Opferplatz“) heißt, geschah im Jahre 1988 ein furchtbares Ereignis, das nun Mityo einzuholen droht.

Obwohl „Judgment – Grenze der Hoffnung“ in einigen halbdokumentarischen Sequenzen den Weg der Flüchtlinge durch Wälder und Minenfelder sowie über die Bergkämme in den Rhodopen nachzeichnet, erhalten diese Flüchtlinge kaum ein Gesicht. Regisseur Stephan Komandarev konzentriert sich vielmehr auf die Seite der „Täter“: Anhand des ambivalenten Verhältnisses zwischen Mityo und seinem ehemaligen Hauptmann verwebt Regisseur und Mit-Drehbuchautor Komandarev die zwei Zeitebenen, die vor 1989 und die Gegenwart, miteinander. Dazu führt Stephan Komandarev aus: „Dieser Mityo ist ein Mann meiner Generation. Über die wollte ich etwas erzählen und davon, wie wir uns zu unserer Vergangenheit verhalten, also der Zeit vor 1989, über die wir in Bulgarien nicht sprechen wollen. Ich wollte die aktuelle Realität zeigen, aber auch den Einfluss, den die Vergangenheit auf das Heute hat.“ Die von einer schwungvollen Kameraführung bestens eingefangene, ursprünglich-raue Landschaft bietet mit Unterstützung einer expressiven Musik den Rahmen für menschliche Dramen, die sich auf den zwei unterschiedlichen Zeitebenen zutragen.

Die Protagonisten dieser Dramen unterteilt Komandarev keineswegs in Gut und Böse. Obwohl der Hauptmann auf den ersten Blick als Opportunist gezeichnet wird, erweist er sich ebenso als Opfer des Systems wie Mityo: Er hat Frau und Tochter nach dem Zusammenbruchs des kommunistischen Regimes verloren, die in den Westen auswanderten – genauso wie die Mutter von Vaskos Flamme Maria, die ihrer Tochter aus Italien Geld schickt. Kann sich die junge Frau dadurch ein Auto leisten, so leidet sie jedoch an der Abwesenheit der Mutter – was sie mit Vasko verbindet. Damit gibt „Judgment – Grenze der Hoffnung“ einen Einblick in eines der Probleme der bulgarischen Gesellschaft: die Auswanderung aufgrund der Verarmung des Landes. Dazu Regisseur Komandarev: „Es gibt ganze Landstriche, die völlig verarmt sind, weil die vor der Wende existierenden Betriebe geschlossen wurden. Die Leute kommen nun auf Arbeitssuche nach Sofia oder gehen, wie die Frauen hier, ins Ausland. Alle verlassenen Orte und Dörfer im Film sind echt, und das ist die reale Situation dort.“

Dennoch erzählt Stephan Komandarevs Film im Kern insbesondere eine Geschichte von Schuld, Vergebung und Versöhnung. Allerdings setzt sie der Regisseur zum Schluss bedauerlicherweise allzu plakativ ins Szene. Dennoch: Über weite Strecken gelingt es „Judgment – Grenze der Hoffnung“, seine kraftvolle, komplexe Geschichte eher unaufdringlich zu erzählen.
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