ZWEITE CHANCE | En chance til
Filmische Qualität:   
Regie: Susanne Bier
Darsteller: Nikolaj Coster-Waldau, Ulrich Thomsen, Maria Bonnevie, Nikolaj Lie Kaas, Lykke May Andersen
Land, Jahr: Dänemark 2014
Laufzeit: 105 Minuten
Genre: Dramen
Publikum: ab 16 Jahren
Einschränkungen: --
im Kino: 5/2015
Auf DVD: 9/2015


José García
Foto: Prokino

Der Zusammenarbeit zwischen der dänischen Regisseurin Susanne Bier (geboren 1960) und ihrem Landsmann, dem Drehbuchautor Anders Thomas Jensen (Jahrgang 1972) verdanken wir eine Reihe bemerkenswerter Filme. Ale haben einen tiefgründigen Inhalt und eine herausragende filmische Qualität: Sowohl in „Brothers – Zwischen Brüdern“ (siehe Filmarchiv) und „Nach der Hochzeit“ (siehe Filmarchiv) als auch in dem mit dem Oscar und dem Golden Globe für den besten nichtenglischsprachigen Film ausgezeichneten „In einer besseren Welt“ (siehe Filmarchiv) gelang es ihnen, allgemein menschliche Fragen mit außergewöhnlicher Tiefe zu behandeln. So etwa wie Menschen eine belastende Vergangenheit bewältigen und von Schuld erlöst werden können, um ein neues Leben zu beginnen. Nachdem sie in ihrem letzten gemeinsamen Film „Love is all you need“ (siehe Filmarchiv) einen eher lockeren und mainstreamigen Ton angeschlagen haben, kehren sie nun mit „Zweite Chance“ („En chance til“) zu einem Sujet zurück, das schwerwiegende moralische Entscheidungen in den Mittelpunkt stellt.

„Zweite Chance“ konfrontiert zwei junge Paare mit Kleinkind miteinander, die jedoch unterschiedlicher kaum sein könnten: Der Polizist Andreas (Nikolaj Coster-Waldau) und seine Frau Anne (Marie Bonnevie) leben in einem schmucken Haus in schöner Umgebung am Stadtrand. Nach einer Fehlgeburt war Anne zwar psychisch angegriffen. Die Geburt des kleinen Alexander hat ihr aber wieder Lebensmut gegeben, obwohl das Baby in der Nacht häufig schreit, und die Eltern mit ihm einfach im Auto herumfahren müssen, um es zu beruhigen. Bei einem Einsatz mit seinem Partner Simon (Ulrich Thomsen) entdecken die beiden Polizisten bei Tristan (Nikolaj Lie Kaas) und seiner Freundin Sanne (May Andersen) ein völlig verwahrlostes, etwa Alexander gleichaltriges Baby. Nicht nur die Umgebung – eine vergammelte Sozialwohnung – steht in scharfem Kontrast zum Haus des Polizisten. Auch das Verhältnis der Eltern zum Kind ist ein ganz anderes: Der für seine Gewaltausbrüche der Polizei hinlänglich bekannte Tristan und seine Freundin scheinen überhaupt kein Interesse für das Kind zu haben, das sich selbst völlig überlassen ist. Die beiden Drogensüchtigen sind vollauf damit beschäftigt, sich den nächsten Rausch zu besorgen.

Die beiden Polizisten bringen das Baby zum Jugendamt, aber die Behörde gibt das Kind in die Obhut der Eltern mit der Begründung zurück, dass es nicht unterernährt sei und außerdem die Mutter den Drogentest bestanden habe. Andreas kann es kaum fassen und verliert langsam den Glauben an die Gerechtigkeit. Doch bald hat er ganz andere Sorgen: Eines Morgens stellt Andreas fest, dass Alexander leblos in der Wiege liegt. Seine Frau Anne hindert ihn daran, den Notarzt anzurufen: Sollte ihr das Kind weggenommen werden, so würde sie sich selbst umbringen.

Susanne Biers Inszenierung konzentriert sich insbesondere auf den Kontrast zwischen den beiden Milieus, dem bürgerlichen des Polizisten und dem randständigen des Drogendealers. Dadurch stellt „Zweite Chance“ aber auch den vermeintlich fürsorglichen Eltern solche gegenüber, die ihr Kind bis zum Unvorstellbaren vernachlässigen. Sollte nicht irgendeine Instanz einschreiten, um das Schlimmste zu verhindern? Kann ein unter solchen Umständen aufwachsendes Kind überhaupt die Möglichkeit haben, sich normal zu entwickeln? Susanne Bier gibt hier durch einen Einschub am Filmschluss eine allzu deutliche Antwort. Ähnlich verhält es sich mit der vermeintlich heilen Welt des eher bürgerlichen Paares.

Solche unerwartete Wendungen, die Susanne Bier etwa in „Nach der Hochzeit“ weitaus subtiler einzusetzen wusste, wirken in „Zweite Chance“ eher drehbuchgesteuert. Dadurch wird die zentrale Frage des Filmes – ob jemand der vermeintlichen Ungerechtigkeit durch eigenmächtiges Einschreiten nachhelfen darf, ob eine an sich schlechte Handlung um eines ebenso vermeintlich hehren guten Zweckes willen erlaubt sein kann – zu sehr als Versuchsanordnung wahrgenommen. Dazu passt es auch, dass am Ende der nach seiner Scheidung aus dem Lot geratene und dem Alkohol verfallene Simon seinen Kollegen Andreas auf die Verwerflichkeit seines Handelns hinweisen muss. Dennoch ist es zu begrüßen, dass sich die Regisseurin mit Schuldzuweisungen zurückhält.

„Zweite Chance“ erreicht zwar nicht die dramatische Dichte der großen Werke von Susanne Bier und Anders Thomas Jensen. Wenn er jedoch ein überdurchschnittlich zum Nachdenken anregender Film geworden ist, dann einerseits wegen der darin zum Ausdruck kommenden Fragen, andererseits aber auch wegen der schauspielerischen Leistung insbesondere der männlichen Darsteller, die von Kameramann Michael Snyman effektvoll ins Licht gerückt werden. Nehmen sich die weiblichen Charaktere allzu gekünstelt aus, so verleihen sowohl Nikolaj Coster-Waldau als auch Nikolaj Lie Kaas ihren Figuren eine beeindruckende Leinwandpräsenz. Dennoch brilliert insbesondere der Leinwandveteran Ulrich Thomsen mit seiner zurückgenommenen Darstellung einer zerrissenen Persönlichkeit.

Trotz der etwas gesuchten Dramaturgie stellen Susanne Bier und Anders Thomas Jensen in „Zweite Chance“ tiefgreifende Fragen im Zusammenhang mit Elternschaft, mit moralischen Grauzonen im vermeintlich richtigen Handeln sowie mit Schuld und Sühne.
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