EIN JUNGE NAMENS TITLI | Titli
Filmische Qualität:   
Regie: Kanu Behl
Darsteller: Shashank Arora, Lalit Behl, Shivani Raghuvanshi, Ranvir Shorey, Amit Sial, Prashant Singh
Land, Jahr: Indien 2014
Laufzeit: 124 Minuten
Genre: Dramen
Publikum: ab 16 Jahren
Einschränkungen: G +
im Kino: 5/2015


José García
Foto: Rapid Eye Movies

Zwei junge Männer schauen sich ein im Rohbau stehendes Parkhaus an. Titli (Shashank Arora) möchte offenbar in dieses Objekt investieren. Warum es ihm so wichtig ist, verdeutlicht das Spielfilmdebüt von Kanu Behl „Ein Junge namens Titli“, das letztes Jahr in der Sektion „Un Certain Regard“ beim Filmfestival Cannes seine Premiere feierte und nun im regulären Kinoprogramm anläuft, auch sofort: Seine Familie führt nicht nur ein kleines Familiengeschäft. Sie bildet eine Bande von Autodieben, die sogar vor brutalsten Methoden nicht zurückschreckt. Der älteste Bruder Vikram (Ranvir Shorey) zeigt sich besonders gewalttätig, nicht nur in den Überfällen, sondern auch innerhalb der Familie. Mit Duldung des inzwischen körperlich schwachen, aber dennoch alles kontrollierenden Vaters (Lalit Behl) tyrannisiert Vikram seine zwei jüngeren Brüder Baawla (Amit Sial) und Titli sowie seine Frau. Fügt sich Baawla ohne Gegenwehr in sein Schicksal, so ist Titli fest entschlossen, aus der schäbigen Existenz seiner Familie auszusteigen. Deshalb spart er schon lange, um in das erwähnte Bauprojekt zu investieren.

Als ihm aber nach einer Verhaftung korrupte Polizisten seine Ersparnisse stehlen, scheint sein Traum von einem besseren Leben ausgeträumt zu sein. Sein ältester Bruder Vikram arrangiert dann Titlis Hochzeit mit der jungen Neelu (Shivani Raghuvanshi), damit sie bei ihren krummen Geschäften als Lockvogel agiert. Obwohl Neelu zart und zerbrechlich aussieht, erweist sich die junge Frau als durchaus selbstbewusst. So wehrt sie sich in der Hochzeitsnacht erfolgreich gegen Titlis Annährungsversuche. Denn auch sie hat einen Plan, um aus der Armutsspirale herauszukommen: Sie unterhält ein Verhältnis mit dem verheirateten Prince (Prashant Singh), der aus einer wohlhabenden Familie stammt und in der Baubranche zu einigem Reichtum gekommen ist. Denn Neelu ist fest davon überzeugt, dass sich Prince von seiner Frau scheiden und sie heiraten will. Wenn schon Titli Neelus Zuneigung nicht gewinnen kann, dann möchte er sich wenigstens mit ihr verbünden, um ihrer Welt voller Armut und Gewalt zu entfliehen.

In „Slumdog Millionär“ (2008) bot Danny Boyle eine Sicht auf Indien, die von den üblichen farbenfrohen und mit Tanzeinlagen voll gespickten „Bollywood“-Produktionen meilenweit entfernt zu sein scheint. Dennoch halten sich in Boyles Film Szenen von schonungslosem Realismus mit einer märchenhaften Lebensfreude die Waage. In „Ein Junge namens Titli“ bleibt kein Platz für Märchenhaftes noch für „Bollywood“-typische Gesangseinlagen, auf die „Slumdog Millionär“ nicht gänzlich verzichten wollte. Kanu Behls Film zeigt mit unmittelbarem Realismus das teilweise sehr brutale Leben in den indischen Slums. Diese Randbezirke kontrastiert Regisseur Kanu Behl mit den Hochhäusern und den vielen Baustellen in der Innenstadt von Delhi. Dazu führt Regisseur Behl aus: „Es gibt tatsächlich zwei Teile von Delhi. Zum einen die Stadt, in der Menschen leben, die was wollen, die konsumieren und rund um die Uhr bedient werden wollen, und zum anderen die Randbezirke, in denen Menschen wohnen, die nicht Teil dieser Gesellschaft sind, deren Job es ist, die Stadtbewohner zu bedienen. Ich glaube, dass die Gewalt aus dem Ärger der Menschen entsteht, die aus der Mitte der Gesellschaft verdrängt werden. Diese Art der Gewalt kommt von der Frustration, die entsteht, wenn man mit dem Rücken zur Wand steht.“ Für die Menschen aus den Slums bleibt die moderne Innenstadt ein Sehnsuchtsziel – nicht von ungefähr sieht Titli seine Rettung in einer Bauinvestition. Neelus Freund Prince ist ein typischer Vertreter dieser Gesellschaftsschicht. Auch auf der Bildebene wird der Gegensatz deutlich: Die Hochhäuser und eleganten Bezirken werden von Kameramann Siddharth Diwan meist in ruhigen Totalen wiedergegeben. Die Bilder aus Titlis Haus sind eher mit der Handkamera aufgenommen, wodurch ein halbdokumentarischer Stil entsteht, der gerade das Schäbige in dieser Welt unterstreicht.

Kanu Behl erzählt eine Geschichte der Befreiung aus einem patriarchalischen System: „,Ein Junge namens Titli‘ war immer als antipatriarchalischer Film gedacht. Somit sind die weiblichen Charaktere stark und individuell geprägt. Ob Neelu, Sangeeta oder die Anwältin, die nur in einer Szene auftaucht, diese Frauen sind Denker und Macher, die nur von ihren eigenen Moralvorstellungen gelenkt werden. Ob es sich um Sangeetas Weg aus den Fängen von Vikram oder Neelus Entdeckung des ,wahren‘ Prince handelt, der Film soll ihren Schmerz mit Empathie, nicht Sympathie darstellen.“ Auffällig sind die starken weiblichen Figuren im Gegensatz zu den – mit Ausnahme von Titli – durchweg negativ besetzten männlichen Charakteren. Dies gilt nicht nur etwa für Vikram, sondern auch für Prince, der sich im Laufe der Handlung als Lügner herausstellt.

Selbst Titli wird in den Sog der Mafia-Methoden hineingezogen und muss sich von Neelu den Vorwurf gefallen lassen: „Du bist genauso wie der Rest der Familie.“ Obwohl er anfangs bei den Überfällen seiner Brüder eher im Hintergrund blieb, wendet Titli immer mehr Gewalt an. In seinem Spielfilmdebüt verdeutlicht Hauptdarsteller Shashank Arora allerdings die inneren Konflikte, die er auszufechten hat. Denn wie seine Brüder will er auf gar keinen Fall werden. Wie soll er aber aus diesem Teufelskreis herauskommen? Dass er gerade zusammen mit Neelu es schaffen könnte, das ist die hoffnungsvolle Aussicht, die Kanu Behl in „Ein Junge namens Titli“ verbreitet.
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