BEYOND PUNISHMENT | Beyond Punishment
Filmische Qualität:   
Regie: Hubertus Siegert
Darsteller:
Land, Jahr: Deutschland 2015
Laufzeit: 105 Minuten
Genre: Dokumentation
Publikum: ab 16 Jahren
Einschränkungen: --
im Kino: 6/2015
Auf DVD: 10/2015


José García
Foto: Piffl Medien

Über Sinn und Zweck von Strafe ist im Laufe der Jahrhunderte endlos diskutiert worden. Zwischen der drakonischen Gesetzgebung im 7. vorchristlichen Jahrhundert mit den sprichwörtlich gewordenen drakonischen Strafen und dem Konzept der Resozialisierung oder Wiedereingliederung von Tätern in die Gesellschaft im 20. Jahrhundert bewegen sich sehr unterschiedliche Auffassungen. Dabei konzentriert sich die Perspektive meistens auf den Täter. Für die Justiz ist es mit deren Bestrafung in der Regel getan. Die Sicht der Opfer kommt allerdings zu kurz. Der Dokumentarfilmer Hubertus Siegert schaut sowohl auf die Angehörigen der Opfer von Kapitalverbrechen als auch auf die Täter – in drei verschiedenen Ländern der westlichen Welt. Daraus ist der Dokumentarfilm „Beyond Punishment“ entstanden, der den Max-Ophüls-Preis als Bester Dokumentarfilm 2015 gewonnen hat, und nun im regulären Kinoprogramm gestartet ist.

In einem Hochsicherheitsgefängnis in Wisconsin ist die säuberliche Trennung von Opfern und Tätern aufgehoben. Hier initiierte eine pensionierte Richterin eine Gesprächsrunde, an der zweimal im Jahr sowohl die einen als auch die anderen teilnehmen. Hier lernt der Zuschauer Leola und Lisa kennen. Sie wohnen in der New Yorker Bronx, wo ihr damals 16-jähriger Sohn und Bruder erschossen wurde. Seit mittlerweile elf Jahren warten Mutter und Tochter darauf, dass der zu 40 Jahren Gefängnis verurteilte, damals 21-jährige Sean die Tat zugibt.

In Norwegen hatte ein Jugendlicher seine Jugendliebe getötet: Stiva erschoss seine 16-jährige Freundin Ingrid-Elisabeth aus Eifersucht. Nach sechs Jahren wird Stiva aus dem Gefängnis entlassen. Für Ingrid-Elisabeths Vater Erik ist es aber unerträglich, dass er ihm begegnen könnte. Deshalb ist Erik sogar mit seiner Familie in einen anderen Teil der Stadt gezogen. Obwohl er sehr beherrscht von seinem Verlust spricht, könnte sich der Vater des Opfers ein Wiedersehen mit Stiva schlicht nicht vorstellen.

Ganz anders Patrick von Braunmühl in Berlin. Sein Vater Gero von Braunmühl wurde als hoher Beamter im Außenministerium von der Roten Armee Fraktion getötet. Zwar wurde ein Bekennerschreiben gefunden, aber die genauen Täter blieben unbekannt – an der Weigerung, die konkreten Täter für einzelne Mordaktionen preiszugeben, halten die RAF-Mitglieder bis heute fest. In „Beyond Punishment“ erzählt Patrick von Braunmühl von der Begegnung mit Birgit Hogefeld im Jahre 1996, als dieses RAF-Mitglied noch im Gefängnis saß (leider gibt es offenkundig keine Bilder von diesem Treffen). Obwohl Patrick auf eine neue Begegnung nach Hogefelds Entlassung gehofft hatte, war sie jedoch zu keiner weiteren Begegnung bereit. Nun erhofft sich der Sohn des Ermordeten von einem anderen RAF-Mitglied Aufklärung: Manfred Grashof (geb. 1946), eins der wenigen lebenden Gründungsmitglieder der RAF, der auch im Namen der RAF getötet hat, stellt sich für ein Treffen zur Verfügung.

Regisseur Hubertus Siegert führt Interviews mit Betroffenen, aber auch mit Tätern. Dennoch bleibt er immer auf Distanz. Die Kamera des auf Dokumentarfilme spezialisierten Marcus Winterbauer nimmt stets eine beobachtende Position ein. Hubertus Siegert fügt einige wenige Kommentare ein, verzichtet jedoch auf den Einsatz von Musik. Dadurch stehen die Figuren selbst im Mittelpunkt von „Beyond Punishment“. Dennoch stehen sie hier nicht so sehr in ihrer Individualität, sondern eher als Sinnbild für die unterschiedlichen Reaktionen der Opfer: Für die Position, auf das Eingeständnis des Täters zu warten und zu hoffen, stehen Leola und Lisa. Für die Befürchtung, durch die erneute Begegnung mit dem Mörder seiner Tochter alles Leid wieder einmal zu durchleben, steht Erik. Und für das Streben danach, durch mehr Wissen eine sinnlose Tat besser zu verstehen, steht Patrick von Braunmühl.

Obwohl dadurch etwas typisiert, bringt Hubertus Siegert dem Zuschauer die Sicht, den Schmerz der Angehörigen näher. Wenn auch in geringerem Maß zeigt sein Film aber auch, dass ebenfalls auf der Seite der Täter mit dem Gerichtsurteil und dem Strafvollzug keineswegs die „Angelegenheit“ erledigt ist. So sagt etwa in „Beyond Punishment“ ein Täter: „Das Gefängnis ist keine Strafe. Die wahre Strafe ist, was Du mit Dir selbst machst“. Kann über die Bestrafung der Täter hinaus „Bewegung“ in dieses System kommen? Das eingangs erwähnte Beispiel des Hochsicherheitsgefängnisses Green Bay in Wisconsin verdeutlicht, dass ein Reden miteinander möglich ist. Zwar treffen auch hier nicht die Täter auf die Angehörigen der Opfer ihrer eigenen Tat, aber in einem größeren Kreis von etwa 30 Häftlingen und einer ebenso starken Gruppe von Betroffenen kommen sie ins Gespräch. Dadurch erfährt der Zuschauer, dass nicht nur die Angehörigen der Opfer, sondern auch die Täter unter den Auswirkungen ihrer Taten leiden: „Ich leide jeden Tag unter dem Wissen, dass ich meine Tat nicht rückgängig machen kann“, heißt es etwa seitens eines der Täter.

Durch diese Annäherung, durch die gemeinsame Verarbeitung der Tat stößt „Beyond Punishment“ denn auch auf seinen Kern: Was bedeutet eigentlich „vergeben“? Große Versöhnungsgesten darf der Zuschauer in Siegerts Film zwar nicht erwarten. Aber ein Wille, das Geschehene besser zu verstehen, die Suche nach Verarbeitung des Schmerzes und dadurch auch nach Versöhnung – das macht „Beyond Punishment“ schon deutlich.
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