SCHÜLER DER MADAME ANNE, DIE | Les héritiers
Filmische Qualität:   
Regie: Marie-Castille Mention-Schaar
Darsteller: Ariane Ascaride, Ahmed Dramé, Noémie Merlant, Geneviève Mnich, Stéphane Bak
Land, Jahr: Frankreich 2014
Laufzeit: 105 Minuten
Genre: Komödien/Liebeskomödien
Publikum: ab 12 Jahren
Einschränkungen: --
im Kino: 11/2015
Auf DVD: 4/2016


José García
Foto: Neue Visionen

Nach einer wahren Begebenheit erzählt der französische Spielfilm „Die Schüler der Madame Anne“ von einer Schulklasse in einem sozialen Brennpunkt am Rande von Paris, die nach der Beschäftigung mit dem Holocaust einen tiefgreifenden Wandel erlebt. Im Jahre 2009 nahm die Klasse 11-1 des Léon-Blum-Gymnasiums am „Nationalen Wettbewerb zum Widerstand und zur Deportation“ teil. Ahmed Dramé, einer der Schüler, schrieb die Geschichte auf, auf der „Die Schüler der Madame Anne“ basiert. Er verfasste darüber hinaus zusammen mit der Regisseurin Marie-Castille Mention-Schaar das Drehbuch und übernahm eine der Hauptrollen.

Die speziellen Probleme im Léon-Blum-Gymnasium im Pariser Vorort Créteil werden bereits in der Eingangsszene deutlich: Eine Schülerin, die gerade das Abitur bestanden hat, möchte ihr Zeugnis abholen. Die Lehrerin würde es ihr auch gerne aushändigen. Dafür müsste die Schülerin aber das Kopftuch ablegen. Die ehemalige Schülerin weigert sich und beruft sich eben darauf, dass sie keine Schülerin mehr sei. Die Szene hat zwar mit der eigentlichen Handlung des Filmes von Mention-Schaar nichts zu tun. Sie macht jedoch auf einen sozialen Sprengstoff aufmerksam: In der auf religiöse Neutralität pochenden und deshalb äußere religiöse Zeichen wie das Kopftuch verbietenden staatlichen Schule ist mit einem solchen Verbot das religiöse-kulturelle Selbstverständnis der Schüler nicht einfachhin verschwunden. Dass dies sich nicht nur auf einen Ausdruck muslimischen Glaubens wie das Kopftuch, sondern etwa auch auf christliche Zeichen bezieht, wird in einer zwar weitaus subtiler inszenierten, aber nichtsdestoweniger ebenfalls eindeutigen Geste augenfällig: Eine Schülerin wird gebeten, das an ihrer Halskette hängende kleine Kreuz unter den Pullover zu schieben. Auch ein Kreuz, und sei es so klein und eventuell nur als Schmuckstück anzusehen, darf nicht sichtbar getragen werden.

Ein Beispiel, dass damit die Probleme nicht einfach aus der Welt geschaffen sind, stellt die besonders berüchtigte Klasse 11-1 im nach dem sozialistischen Politiker und Schriftsteller benannten Banlieue-Gymnasium dar. Die multikulturelle Vielfalt ihrer Schüler gibt immer wieder Anlass für Konflikte in diesem Mikrokosmos. Die für einen sozialen Brennprunkt typische Perspektivlosigkeit fügt ein Übrigens hinzu. Zwar sind die Schüler daran interessiert, ein Schulabschlusszeugnis zu erhalten. Für die Inhalte des Schulunterrichts lassen sie sich aber kaum gewinnen.

Das ändert sich jedoch, als die engagierte Lehrerin Anne Gueguen (Ariane Ascaride) den Geschichtsunterricht in der Klasse übernimmt. Sie erkennt, dass in „ihren“ Schülern viel mehr Potenzial steckt, als sie sich selbst einzugestehen bereit sind. Madame Anne meldet ihre Schüler bei einem landesweiten Schülerwettbewerb an, in dem es um Kinder und Jugendliche in Konzentrationslagern während des Zweiten Weltkriegs geht. Obwohl die Schüler mit dem gestellten Wettbewerbsthema zunächst einmal nichts anfangen können und der Lehrerin nicht zuletzt von der Schulleitung Unverständnis entgegenkommt, schafft Madame Anne es schließlich, ihre Klasse für den Wettbewerb zu motivieren.

Obwohl das Drehbuch von einem der teilnehmenden Schüler selbst stammt, was für Glaubwürdigkeit sorgen sollte, zeichnet sich die Inszenierung von „Die Schüler der Madame Anne“ (Originaltitel: Les héritiers) durch lauter Klischees aus, angefangen bei der Figurenzeichnung. Zur Klasse gehören insbesondere der Muslim Malik (Ahmed Dramé), der von einer Schauspielerkarriere träumt, der schweigsame Théo (Adrien Hurdubae) und die aggressive Mélanie (Noémie Merlant), die sich zunächst weigert, am Projekt teilzunehmen. Dass sie es sich anders überlegen wird, kann sich der Zuschauer sicher sein.

„Die Schüler der Madame Anne“ folgt denn auch allen Regeln des Genres „engagierte/r Lehrer(in)“, der/die mit ungewohnten, gerne auch unorthodoxen Unterrichtsmethoden schwererziehbare Schüler zu eigenständigem Denken bewegt. In „Die Kinder des Monsieur Mathieu“ (Christophe Barratier, 2004) ist es die Musik, die den aus schwierigen Verhältnissen stammenden, aggressiven Schülern Selbstachtung beschert. Die Ähnlichkeiten zwischen „Die Schüler der Madame Anne“ und dem amerikanischen Film „Freedom Writers“ (Richard LaGravenese, 2007, siehe Filmarchiv) sind noch frappierender: In LaGraveneses Film übernimmt im Jahre 1994 eine junge Lehrerin eine Klasse an einer rassenintegrierten Schule in Kalifornien. Doch die Rassenintegration funktioniert lediglich auf dem Papier. Wie in Marie-Castille Mention-Schaars Film brechen in „Freedom Writers“ immer wieder ethnische Konflikte aus. Um die Potenziale der Schüler und gleichzeitig ihre Zusammengehörigkeit zu fördern, schlägt die Lehrerin vor, das Tagebuch von Anne Frank zu lesen. Dadurch wird der Horizont der Schüler erweitert. Erstmals interessieren sie sich für etwas außerhalb ihrer begrenzten Welt, und außerdem fangen sie an zu schreiben. „Die Schüler der Madame Anne“ könnte als Neuauflage von „Freedom Writers“ bezeichnet werden.

Weil darüber hinaus die Wandlung der aufsässigen Schüler in verantwortungsvolle, interessierte junge Menschen kaum glaubhaft in Szene gesetzt und darüber hinaus mit Pathos etwa bei einem Auftritt des (realen) Holocaust-Zeitzeugen Léon Zyguel nicht gegeizt wird, nimmt sich Marie-Castille Mention-Schaars Film als eine an sich sehr schöne Geschichte aus, die trotz ihres Realitätsbezuges einfach zu klischeehaft inszeniert wurde.
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