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José García Foto: Leykauf Film ![]() Das ältere Ehepaar Mlastek lebt heute noch in demselben Haus, in dem Berman zuletzt wohnte. Eine Off-Stimme erklärt: Seit 100 Jahren gehört das Haus der Familie Mlastek. Hier befinden sich 10 000 Porträts eines einzigen Fotografen. Saturnin Mlastek fand die Glasnegative im feuchten Keller vor und lagerte sie über Jahrzehnte auf seinem trockenen Dachboden, so dass sie vor der Zerstörung bewahrt wurden. Als Illustration zeigt das Ehepaar ein Fotoalbum mit einigen dieser Aufnahmen. Viele von ihnen zeigen Gesichter in Großaufnahme. Diese ausdrucksvollen Gesichter auf Bermans Fotos haben es dem Filmemacher insbesondere angetan, so dass er sie zum Ausgangspunkt für Die Hälfe der Stadt nahm. Dazu führt Regisseur Siczek aus: Ich begann zu forschen. Ich wollte erfahren, wer diese Bilder gemacht und in welcher Welt dieser Fotograf gelebt hat und ich wollte diese Welt der Menschen auf den Bildern kennenlernen. Denn diese Menschen schienen mir so nah, so alltäglich, und gleichzeitig waren sie Wesen einer anderen, nahezu vergessenen Epoche: Bürger eines Polens, das heute unwahrscheinlich erscheint: Ein Kosmos voll unterschiedlicher Sprachen, Religionen und Lebensweisen, der über Jahrhunderte den Alltag von Polen bildete und heute so unendlich fern und unwiederbringlich vergangen scheint. Bereits zu Beginn setzt Regisseur Siczek darüber hinaus ein Stilmittel ein, auf das er immer wieder zurückgreifen wird: Szenen des Lebens von Chaim Berman werden als Zeichentricksequenzen nachgestellt. Es handelt sich dabei um einfache Zeichnungen in verwaschenen Farbtönen, die eine melancholische Stimmung erzeugen. Laut dem Regisseur wurden die Animationssequenzen durch die Werke des Malers Marc Chagall und die naive Malerei der Kozienicer Region inspiriert. Dazu kommt ein junges Fotografenpaar, Iwona und Michal, die in der Stadt nach einstigen Motiven der Fotos von Berman suchen und sie aus demselben Winkel fotografieren. Dadurch, dass er Vergangenes und Gegenwärtiges zur Deckung zu bringen sucht, bietet gerade dieser Erzählstrang in Siczeks Film eine Art Überlagerung der Vergangenheit durch die Gegenwart und dadurch den Versuch, diese Lücke über die Zeit hinweg zu schließen. Dennoch: Nach sieben Jahrzehnten ist kaum jemand in Kozienice, der Berman noch gekannt hat. Zu diesen wenigen Überlebenden gehört etwa auch die Tochter von Antoni Kaczor, der während des Krieges Berman Unterschlupf gewährt hatte. Die Kamera von Pawel Siczek begleitet die inzwischen betagte Dame bei ihrer Rückkehr nach Kozienice. Sie erzählt von den Momenten des Schreckens und der permanenten Bedrohung. In seinem Film Die Hälfte der Stadt rekonstruiert Pawel Siczek einerseits das Leben des Fotografen und Kommunalpolitikers, andererseits gibt er auch Einblicke in eine Gesellschaft, in der Polen, Deutsche und Juden friedlich miteinander lebten. Eine versunkene Kultur im Herzen Europas. Dabei spielt die nahe fließende Weichsel als Lebensader eine bedeutende Rolle, wie etwa auch der deutschstämmige Karl Müller betont. In Kozienice lernte Chaim Berman zusammen mit seinem jüngeren Bruder das Fotografie-Handwerk von seinem Vater. Bald beginnt er selbst zu fotografieren und wird damit Zeuge der wechselvollen Geschichte im Polen des 20. Jahrhunderts, vom Ersten Weltkrieg über die Polnische Republik 1926 bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Mit dem Überfall auf Polen durch die deutschen Truppen werden die Weichseldeutschen auf einmal die führende Schicht und Karl Müller Oberbürgermeister von Kozienice. Die Polen werden als Untermenschen eingestuft und die Juden als Ungeziefer gejagt und bald in die Konzentrations- und Vernichtungslager, insbesondere nach Treblinka deportiert. Zunächst möchte Berman zwischen den ethnischen Gruppen noch vermitteln, er muss sich aber bald damit abfinden, ins Ghetto abgeschoben zu werden. Bermans vermeintliche Freunde werden plötzlich zu seinen Feinden, während Menschen, die er vorher nicht sonderlich schätzte, ihn und seine Familie zu retten versuchen. Auch wenn er zunächst mit Frau und Kindern abtransportiert wird, gelingt es Chaim und einem Sohn, sich bei einer Familie zu verstecken: Der polnische Nachbar Bermans, Antoni Kaczor, hält ihn in einem winzigen Keller versteckt. Doch bald erkrankt Chaim an Typhus. Bei der Verleihung des Prädikats besonders wertvoll führt die Deutsche Film- und Medienbewertung FBW aus: Insgesamt ist dies nach Ansicht der Jury formal nicht nur ein außergewöhnlicher Dokumentarfilm, sondern auch eine außerordentlich verdienstvolle Aufarbeitung von Geschichte. Obwohl der Geschichtsausschnitt, in dem Die Hälfte der Stadt angesiedelt ist, des Öfteren Gegenstand von Dokumentar- und Spielfilmen wurde, gelingt es Pawel Siczek, anhand eines individuellen Schicksals dem Zuschauer die Geschichte einer verloren gegangenen Kultur nahezubringen. |
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