DÄMONEN UND WUNDER | Dheepan
Filmische Qualität:   
Regie: Jacques Audiard
Darsteller: Jesuthasan Antonythasan, Kalieaswari Srinivasan, Claudine Vinasithamby, Vincent Rottiers, Marc Zinga
Land, Jahr: Frankreich 2015
Laufzeit: 115 Minuten
Genre: Dramen
Publikum: ab 16 Jahren
Einschränkungen: G, S
im Kino: 12/2015
Auf DVD: 6/2016


José Garcia
Foto: Weltkino

„Gib mir einen Kuss, wie die anderen Mütter auch“, bittet die neunjährige Illayaal (Claudine Vinasithamby) Yalini (Kalieaswari Srinivasan) auf dem Weg zur Schule. Yalini küsst die Kleine allerdings beiläufig – ein Kuss ohne besondere Anteilnahme. Kein Wunder, ist Yalini doch nicht Illayaals Mutter, wofür sie sich ausgibt. Yalini hat vielmehr keine Kinder, will eigentlich gar keine haben. Die Familie, die sie mit Dheepan (Jesuthasan Antonythasan) und eben mit Illayaal bildet, besteht nur auf dem Papier. Denn die falschen Ausweispapiere, die sie benötigten, um Sri Lanka in Richtung Europa zu verlassen, weisen sie als Familie aus. So sind sie in Frankreich gelandet, oder vielleicht lediglich gestrandet.

Yalini wollte allerdings nicht nach Frankreich, sondern nach Großbritannien, wo ihre Cousine lebt. Und dies bleibt ein Dauerthema in Jacques Audiards Spielfilm „Dämonen und Wunder“ („Dheepan“), der mit der Goldenen Palme auf dem diesjährigen Filmfestival Cannes ausgezeichnet wurde und nun im regulären Kinoprogramm startet. Das Ziel verliert Yalini über die gesamte Filmlänge nicht aus den Augen. Was Dheepan und Yalini aus Sri Lanka zu flüchten antreibt und wie sie zueinander finden, verdeutlicht Audiards Film in einem kurzen Prolog: Dheepan verbrennt seine Uniform als Freiheitskämpfer, Yalini sucht nach einem Kind, das sie als ihr eigenes ausgeben kann. Sie findet Illayaal bei deren Tante, die schon genug mit ihrem eigenen Kind zu tun hat und deshalb ihre Nichte mit der fremden Frau ziehen lässt. So landet die vermeintliche Familie in Frankreich, wo sich Dheepan zunächst einmal als illegaler Straßenverkäufer in den Pariser Straßencafés durchschlägt. Mit Hilfe eines Dolmetschers bekommt er jedoch bald eine Hausmeisterstelle in einer heruntergekommenen Sozialwohnungssiedlung im Pariser Vorort Pré.

Auch Yalini kann dort als Köchin und Betreuerin eines alten Mannes arbeiten. Bei ihm lernt sie den Bandenchef Brahim (Vincent Rottiers) kennen, der zwar gutmütig wirkt, aber auch sehr gewalttätig werden kann. Denn der Sozialwohnungsblock, in dem sich Dheepan nun um den Müll, den Austausch von Glühlampen oder auch um die Postverteilung kümmert, stellt sich nicht nur als Sammelbecken für alle möglichen Ethnien heraus, sondern insbesondere auch als Treffpunkt für eine Drogenbande, deren Kopf eben Brahim ist.

Während sich Dheepan nach und nach in Yalini verliebt, versucht er sich in Pré einzuleben. Am leichtesten fällt die Integration naturgemäß der neunjährigen Illayaal. Sie geht gerne zur Schule, wechselt bald von der Integrations- in eine normale Klasse und übernimmt sogar den Dolmetsch-Job für ihre „Eltern“. Dem Zusammenwachsen der vermeintlichen zur richtigen Familie steht allerdings etwas entgegen: Yalini will noch immer zu ihrer Cousine nach England, weshalb sie sich im Pariser Vorort nicht richtig einrichten möchte.

Könnte „Dämonen und Wunder“ bislang als Sozialstudie über die Integrationsbemühungen einer Flüchtlingsfamilie bezeichnet werden, die statt in die Mitte der Gesellschaft in ein Ghetto gerät, so ändert sich schlagartig die Perspektive, als plötzlich Schüsse zu hören sind. Dheepan sieht sich in einen Bandenkrieg gerade da verwickelt, wo er eine gewaltfreie Zone errichten wollte. Der ehemalige Befreiungskämpfer greift nun zur Waffe nach dem Vorbild amerikanischer oder auch französischer Selbstjustiz-Filme. Auffällig ist dabei, dass hier keine Staatsgewalt tätig wird. Der ehemalige Soldat muss es also selbst richten. Unabhängig davon, dass sein Feldzug realistisch anmuten mag, weil er im Gegensatz zu den Kleingangstern der Vorstadt Guerillakriegserfahrung besitzt, gibt diese Wendung im Drehbuch von Regisseur Audiard und seiner Mit-Autoren Noé Debré und Thomas Bidegain der Handlung eine fatalistische Richtung: Derjenige, der dem Krieg in der Heimat entsagte und in der Fremde ein friedliches Leben führen wollte, sieht sich gezwungen zu kämpfen, um seine Familie zu verteidigen.

Glaubwürdig wirkt der Film über Tamilen, die dem Bürgerkrieg in Sri Lanka entfliehen und in Europa ein neues Leben beginnen wollen, insbesondere durch die Wahl des Hauptdarstellers. Denn Jesuthasan Antonythasan kämpfte vom 16. bis zum 19. Lebensjahr als Kindersoldat bei den „Liberation Tigers of Tamil Eelam“ (LTTE), ehe er aus Sri Lanka fliehen konnte und 1993 in Frankreich als politisch Verfolgter Asyl erhielt, wo er hauptsächlich als Schriftsteller tätig ist. Aber auch Claudine Vinasithamby, die zu Beginn der Dreharbeiten tatsächlich erst neun Jahre alt war, spielt Illayaal mit großer Intensität: „Innerhalb der Familie hat sie eine treibende Rolle, wie ein Motor“, so Jacques Audiard. „Sie ist es, die die falschen Eltern zueinander führt. Und sie macht diese seltsamer Abmachung mit Yalini: Wenn du schon nicht meine falsche Mutter sein kannst, dann sei wenigstens meine falsche Schwester. Und das funktioniert tatsächlich besser.“ Vordergründig nimmt sich „Dämonen und Wunder“ als ein Thriller um einen durch Krieg und Gewalt traumatisierten Mann aus, der dem Krieg in der Heimat entflieht, um in der Fremde eine ähnliche Gewalt in Form eines Bandenkrieges zu erleben.

Regisseur und Mit-Drehbuchautor Audiard sieht seinen Film aber auch als „eine Komödie über eine Wiederheirat“. Denn „Dämonen und Wunder“ handelt auch davon, wie aus einer falschen eine richtige Familie wird, und dies auch mit durchaus komödiantischen Zügen.
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