UNSERE KLEINE SCHWESTER | Our Little Sister
Filmische Qualität:   
Regie: Hirokazu Kore-eda
Darsteller: Haruka Ayase, Masami Nagasawa, Kaho, Suzu Hirose, Ryô Kase, Takafumi Igeka, Kentarô Sakaguchi, Ohshirô Maeda
Land, Jahr: Japan 2015
Laufzeit: 128 Minuten
Genre: Familienfilme
Publikum: ab 12 Jahren
Einschränkungen: --
im Kino: 12/2015
Auf DVD: 6/2016


José Garcia
Foto: Pandora

Durch das Filmschaffen des 1962 geborenen japanischen Regisseur Hirokazu Kore-eda zieht sich wie ein roter Faden die Frage, was Familie ausmacht. In „Nobody Knows“ (2004) erzählte er von Kindern, die auf sich alleine gestellt sind, nachdem ihre Mutter spurlos verschwunden ist. In „Still Walking“ (2010) zeichnete Hirokazu Kore-eda ein sehr nuanciertes Bild einer Familie. In seinem letzten Spielfilm „Like Father, Like Son“ (2013), der auf dem Filmfestival Cannes mit dem Preis der Jury ausgezeichnet wurde, reflektierte der japanische Regisseur über die Frage der Elternschaft und insbesondere der Vaterschaft.

Nun startet im regulären Kinoprogramm der neue Film von Hirokazu Kore-eda „Unsere kleine Schwester“, der zum Wettbewerb des diesjährigen Filmfestivals Cannes eingeladen wurde. Die drei Schwestern Sachi (Haruka Ayase), Yoshino (Masami Nagasawa) und Chika (Kaho) werden zum Begräbnis ihres Vaters gerufen, der vor 15 Jahren wegen einer Frau die Familie verließ und in eine andere Stadt zog. Dort lernen die drei Schwestern ihre erst 13-jährige Halbschwester Suzu (Suzu Hirose) kennen, von deren Existenz sie bisher nichts wussten. Suzus Mutter, die zweite Frau des gemeinsamen Vaters, ist bereits gestorben. Die 13-Jährige lebt dort mit ihrer Stiefmutter und deren kleinen Sohn, ihrem Halbbruder. Schnell merkt insbesondere die älteste Schwester Sachi, dass sich Suzu mit ihrer Stiefmutter überhaupt nicht versteht und dort unglücklich ist. Spontan laden die drei Schwestern deshalb Suzu ein, zu ihnen nach Kamakura, einer wunderschönen kleinen Küstenstadt, zu ziehen. Einen kleinen Geschmack von der Schönheit der idyllisch gelegenen Stadt vermittelt der Film in einer Szene, die in einem „Kirschblüten-Tunnel“ spielt.

Die drei Schwestern leben zusammen im großen Elternhaus, einem traditionellen japanischen Holzhaus mit dicht bewachsenem Garten. Denn die Mutter verließ ebenfalls ihre Töchter vor Jahren. So übernimmt Sachi die Mutterstelle für Suzu. Hirokazu Kore-eda zeigt dann einige Pinselstriche aus dem Leben der drei Schwestern: Sachi arbeitet als Krankenschwester und hat eine Beziehung zu einem verheirateten Arzt, die aber zu Ende geht, als er eine Stelle im Ausland angeboten bekommt. Yoshino ist Bankangestellte, wirkt allerdings wenig solide wegen ihres hohen Alkoholkonsums und der dauernd wechselnden Männerbekanntschaften. Chika arbeitet mit ihrem Freund in einem Sportgeschäft, was ihr offenkundig viel Spaß macht.

Viel geschieht in „Unsere kleine Schwester“ nicht. Äußerlich geht es darum, wie sich Suzu in die Schwestern-WG einlebt, wie sie in der Schule Freunde gewinnt, die erste Liebe erfährt, und langsam aber unaufhörlich erwachsen wird. Handlungsorientiert nimmt sich „Unsere kleine Schwester“ keineswegs aus. Das Drehbuch des aktuellen Filmes von Hirokazu Kore-eda basiert auf einem preisgekrönten Manga („Graphic Novel“) mit dem Tiel „Unimachi Diary“, der ins Deutsche mit „Tagebuch einer kleinen Stadt“ übersetzt werden könnte. Drehbuchautor und Regisseur Hirokazu Kore-eda führt dazu aus: „So, wie sich die Gezeiten am Meeresstrand gleichmäßig bewegen, bleiben auch die Bewegungen der Stadt im wesentlichen immer gleich und das trotz des regelmäßigen Kommens und Gehens ihrer Bewohner. Eines Tages in der Zukunft, wenn alle Charaktere in der Geschichte gestorben sind, werden andere Menschen in die Stadt kommen und dort einen Teil ihres Lebens verbringen. Ich frage mich deshalb, ob die eigentliche Hauptfigur der Geschichte nicht viel eher die Zeit ist, die die Vergangenheit und Zukunft absorbiert.“

Über dem Leben der Schwestern, das hier völlig unspektakulär geschildert wird, steht allerdings ein einschneidendes Ereignis aus der Vergangenheit. Vor allem Sachi kam mit dem Weggang der Mutter nicht klar. Erst als sie eine Art Ersatzmutter für Suzu geworden ist, scheint sie bereit, sich mit ihrer Mutter zu versöhnen. Die Zeit spielt aber ebenso eine Rolle in „Unsere kleine Schwester“, indem der Film die vier Jahreszeiten durchläuft, von den bunten Kirschblüten über die schimmernden Sonnenreflexe auf dem Meer und das leuchtende Laub des Herbstwaldes bis zur zurückgenommenen Farbigkeit des Winters. Die Zeit, in der Suzu reift, aber auch in der aus drei vier Schwestern werden, die immer wieder das gemeinsame Kochen und Essen zelebrieren, die gemeinsam vor dem Familienschrein beten, einen Spaziergang am Strand unternehmen oder auch mit einem Feuerwerk das neue Jahr begrüßen. Kameramann Mikiya Takimoto findet ein wohltuendes Gleichgewicht zwischen Nähe und gebührlichem Abstand, um die vier Schwestern ins Licht zu setzen. Seine Bilder zeigen meistens eine perfekte Harmonie zwischen den Schwestern und der Natur, als wären sie ein Teil von ihr.

So gut wie alles wirkt hier alltäglich, beiläufig. Dennoch bleibt „Unsere kleine Schwester“ spannend, weil Hirozaku Kore-eda den Erzählrhythmus meisterhaft beherrscht und mit feinem Humor anreichert. Die zurückgenommene Inszenierung stellt die Charaktere der vier Schwestern in den Mittelpunkt, insbesondere Suzus, die vor allem zu Beginn von Suzu Hirose mit kindlicher Freude und Neugier dargestellt wird, sowie Sachis, die Haruka Ayase mit würdevoller Natürlichkeit gestaltet. Einige kleine, aber hervorragend besetzte und rührend gespielte Nebenfiguren, so etwa die Restaurantbesitzerin Frau Ninomiya (Jun Fukubi), vervollständigen einen Film, in dem die Frauenfiguren eindeutig die Oberhand haben.
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