KINDER DES FECHTERS, DIE | The Fencer
Filmische Qualität:   
Regie: Klaus Härö
Darsteller: Märt Avandi, Ursula Ratasepp, Lembit Ulfsak, Liisa Koppel, Joonas Koff, Hendrik Toompere, Jaak Prints, Egert Kadatsu
Land, Jahr: Finnland, Deutschland, Estland 2015
Laufzeit: 93 Minuten
Genre: Dramen
Publikum: ab 12 Jahren
Einschränkungen: --
im Kino: 12/2015


José Garcia


„Die Kinder des Fechters“ der finnischen Filmemacher Klaus Härö (Regie) und Anna Heinämaa (Drehbuch) erzählt eine Schüsselepisode aus dem Leben des estnischen Fechters Endel Nelis (1925–1993). Der auf wahren Begebenheiten beruhende Spielfilm beginnt mit dem fluchtartigen Wegzug des Fechters aus einer Leningrader Elite-Sportuniversität in seine estnische Heimat: Endel Nelis (Märt Avandi) landet im ehemaligen Kurort Haapsalu. Warum er aus Leningrad Hals über Kopf fliehen musste, wird der Film nach und nach enthüllen. Der spätere Fechtlehrer wurde in der Zeit der deutschen Besatzung nach dem Überfall Nazideutschlands auf die Sowjetunion im Jahre 1943 als 18-Jähriger von der deutschen Armee eingezogen. Davon erfuhr offensichtlich Jahre später die sowjetische Geheimpolizei, als in den Jahren 1948–1953 eine letzte stalinistische Säuberungswelle stattfand.

Die Umstellung fällt dem Spitzensportler nicht leicht. Zwar bekommt er eine Stelle als Sportlehrer an der örtlichen Schule, aber er hat keinerlei Erfahrung im Unterrichten. Die Schüler sind meistens Waisenkinder, deren Väter im Krieg gefallen sind oder in den Gulag deportiert wurden. Zu seinen Pflichten gehört auch die Organisation eines für die Schüler freiwilligen Sportclubs. Nach einigen gescheiterten Versuchen kommt Endel Nelis auf den Gedanken, das anzubieten, was er wirklich kann. Der neue Sportlehrer kündigt an, samstags Fechtstunden zu halten. Begeistert meldet sich Jaan (Joonas Koff) an, dessen Großvater in seinen Studententagen an der Universität Leipzig das Fechten lernte. Die kleine Marta (Liisa Koppel) nimmt ebenfalls gerne daran teil, auch deshalb, weil sie im Sportlehrer eine Art Vaterersatz sieht.

Die Leidenschaft, mit der Endel Nelis seine neue Aufgabe übernimmt, springt auf die Schüler über. Immer mehr Kinder wollen am Fechtunterricht teilnehmen, auch wenn zunächst einmal keine Ausrüstung – Degen, Masken, Schutzkleidung – zur Verfügung steht. Ein größeres Hindernis für den Fechtclub stellt jedoch vor allem die Haltung des Schuldirektors (Hendrik Toompere) dar. Für den linientreuen Bürokraten ist dieser Sport ein „feudales Überbleibsel“, „keine volksnahe Sportart“. Durch Intrigen versucht er, den Fechtclub zu unterbinden. So lässt er in Endels Vergangenheit herumstochern – und findet heraus, dass der neue Sportlehrer eigentlich Keller heißt. Dafür bekommt Endel Nelis die Unterstützung der Lehrerin Kadri (Ursula Ratasepp), in die er sich verliebt.

Der entscheidende Konflikt entsteht freilich, als die Schüler erfahren, dass in Leningrad ein Fecht-Wettbewerb für Schulen aus der gesamten Sowjetunion stattfindet. Sie wollen unbedingt daran teilnehmen, was aber Endel vor ein Dilemma stellt: Soll er es riskieren, seine Schüler nach Leningrad zu begleiten und vom KGB ergriffen zu werden oder die Enttäuschung „seiner“ Kinder in Kauf nehmen? Er trifft eine folgenreiche Entscheidung.
„Die Kinder des Fechters“ besticht zunächst einmal durch ein hervorragend austariertes Drehbuch – kaum zu glauben, dass hier die Schriftstellerin Anna Heinämaa ihr Drehbuchdebüt liefert – auch in der Gewichtung zwischen der Haupt- und der (Liebes-)Nebenhandlung. Die Beiläufigkeit, mit der beispielsweise die Lehrer-Schüler-Beziehung und daraus folgend einerseits das Hineinwachsen des Fechters in den Lehrerberuf und andererseits das Sichbegeistern der Schüler für ein Ziel dargestellt werden, hebt sich wohltuend von der üblichen Überdeutlichkeit des Subgenres „engagierte/r Lehrer(in)“ wie zuletzt in „Die Schüler der Madame Anne“ (siehe Filmarchiv) ab.

Großen Anteil am Gesamteindruck haben ebenfalls die großen und kleinen Schauspieler. Dazu führt die Deutsche Film- und Medienbewertung FBW bei der Verleihung des Prädikats „besonders wertvoll“ aus: „Getragen vom grandiosen Schauspiel Märt Avandis, der seinem Endel eine beeindruckende Menschlichkeit und Authentizität verleiht, zeigt der Film ebenfalls die Zustände am Ende der stalinistischen Gewaltherrschaft. Die Kinderdarsteller Liisa Koppel (Marta) und Joonas Koff (Jaan) bilden einen brillanten Gegenpol zu dem aus der Großstadt kommenden Endel. Sie schaffen es, eine Wahrhaftigkeit in die Geschichte zu bringen, die den Zuschauer von der ersten bis zur letzten Minute fesselt.“

„Die Kinder des Fechters“, der von Finnland für den Oscar 2015 in der Kategorie „Nicht-englischsprachiger Film“ eingereicht wurde, zeichnet sich aber nicht nur in der Schauspielkunst und in der Schauspielerführung durch den Regisseur aus. Auch die zurückgenommene Kameraführung von Tuomo Hutri, das Stilmittel der schnellgeschnittenen Sequenzen und das ausgesuchte Produktionsdesign, etwa die verwaschenen Farben der alten Kleidung, tragen zum Gelingen des Filmes bei. Lediglich die an sich unauffällige Filmmusik trägt hin und wieder zu dick auf.

„Die Kinder des Fechters“ ist nicht nur eine Hommage an einen Spitzensportler, der bis zu seinem Lebensende in der Kleinstadt Haapsalu einen Fechtclub leitete. Darüber hinaus bietet Härös Film auch einen Einblick in ein Land, das immer wieder Besetzungen erfuhr. Denn Estland, das erst 1918 seine Unabhängigkeit erlangt hatte, wurde zunächst von Deutschen und später von Russen während des Zweiten Weltkrieges besetzt, ehe es 1940 unter massivem Druck zusammen mit Lettland und Litauen von der Sowjetunion annektiert wurde. „Die Kinder des Fechters“ verdeutlicht insbesondere das Klima von Verfolgung und Angst in der Zeit kurz vor Stalins Tod.
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