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2/2016 |
Foto: Berlinale
Die 66. Internationalen Filmfestspiele Berlin (11.-21. Februar) bestehen nicht nur aus dem Wettbewerb, in dem über den Goldenen und die Silbernen Bären entschieden wird. Andere Sektionen zeigen eine schier unüberschaubare Zahl von Spiel-, Dokumentar- und Kurzfilmen aus aller Welt. Seit 1978 findet innerhalb der Berlinale eine Sektion für Kinderfilme (âKplusâ) statt, die 2004 mit einem Film-Wettbewerb für 14- bis 18-jährige Jugendliche (â14plusâ) ergänzt wurde. Seit 2007 trägt die Kinder- und Jugendfilme-Sektion der Berlinale den Namen âGenerationâ. Der diesjährige âKplusâ-Wettbewerb besteht aus 13, der â14plusâ-Wettbewerb aus 15 Langfilmen, zu denen noch Kurzfilme in unterschiedlicher Länge hinzukommen. Die insgesamt 63 Kurz- und Langfilme stammen aus 35 Produktions- und Koproduktionsländern. Dazu kommen zwei Filme, die auÃer Konkurrenz gezeigt werden. So präsentiert der kurdische Regisseur Bahman Ghobadi âLife on the Borderâ, eine Zusammenstellung von acht Filmen, die im Rahmen eines Workshops in irakischen Flüchtlingslagern von 12- bis 14-Jährigen gedreht wurden. Darüber hinaus feiert âDas Tagebuch der Anne Frankâ seine Weltpremiere am 16. Februar als âGenerationâ-Sondervorführung (eine ausführliche Besprechung des Filmes folgt zum regulären Kinostart am 3. März).
Unter den 13 Langspielfilmen des âKplusâ-Programms ragt insbesondere wegen seiner Filmsprache und seiner Vielschichtigkeit der türkische Beitrag âRaufâ (Regie: Bar?? Kaya, Soner Caner) heraus. Die äuÃere Handlung erzählt vom elfjährigen Rauf, der die Schule abbricht und bei einem Bestatter eine Schreinerlehrer beginnt. Rauf verliebt sich in die Tochter seines Meisters, die etwa 18-jährige Zana. Sie lächelt zwar liebevoll über Raufs Avancen, aber Rauf gibt seine Hoffnung nicht auf, besonders seit er von Zanas Lieblingsfarbe erfahren hat, die er unbedingt finden will. In den wunderbar fotografierten verschneiten Weiten Anatoliens ist jedoch der Krieg allgegenwärtig. Ohne irgendetwas davon zu zeigen â lediglich Schüsse sind in der Ferne einmal zu hören â handelt âRaufâ jedoch von diesem Krieg. Dafür finden die Regisseure Bar?? Kaya und Soner Caner starke Bilder, die lange nachhalten. So etwa die alte Frau, die bei jedem Wind und Wetter auf einem Stuhl sitzt und mit dem Blick auf die Berge auf ihren Sohn wartet. Oder das ebenso ergreifende Bild der nicht mehr ganz jungen Eltern, die bei Rauf einen Sarg für einen 18-Jährigen bestellen. Mit wenigen Pinselstrichen gelingt es âRaufâ, von den Auswirkungen des Krieges zu erzählen â dazu gehört etwa auch das Ende von Raufs Kindheit.
Vom Ende einer Kindheit handelt auch der an die Kurzgeschichte âWankaâ von Anton Tschechow angelehnte, indische Film âOttaalâ (âThe Trapâ). Der Film beginnt mit dem Brief, den der achtjährige Kuttappayi aus einer schäbigen Unterkunft an seinen GroÃvater schreibt, so dass âOttaalâ eigentlich aus einer ausgedehnten Rückblende besteht. Sie erzählt in ganz hellen Farben von einer unbeschwerten Kindheit: Seit er seine Eltern verloren hat, lebt Kuttappayi bei seinem liebevollen Opa, der auf Wasserfeldern Entenschwärme groÃzieht. Als aber der GroÃvater erkrankt, stellt sich die Frage nach Kuttappayis Zukunft. Er würde am liebsten die Schule besuchen. Aber schlieÃlich landet er in einer Fabrik. Mit weltweit Millionen Kindern teilt Kuttappayi das Schicksal der Kinderarbeit.
In beengten wirtschaftlichen Verhältnissen wächst der zwölfjährige Ali in einer türkischen Kleinstadt. Sein Traum: ein blaues Fahrrad, das er mit dem Trinkgeld aus seiner Arbeit zu kaufen hofft. In âMavi Bisikletâ (âBlue Bicycleâ) erzählt Regisseurin Ãmit Köreken allerdings vorwiegend von einer himmelschreienden Ungerechtigkeit: Alis geheime Liebe Elif verliert ihre Stellung als Schulsprecherin an einen Jungen aus wohlhabendem Haus. Doch die Kinder wollen die willkürliche Entscheidung des Schuldirektors nicht hinnehmen. Mit dem eigentlich für das Fahrrad zurückgelegten Geld starten Ali und sein Freund Yusuf eine Kampagne, um die Einwohner der Kleinstadt auf diese ungerechte Lage hinzuweisen.
Schwierig gestaltet sich das Leben für die elfjährige Linh und ihre kleine Schwester Tien im deutschen Beitrag âEnte gut! â Mädchen allein zu Hausâ von Nobert Lechner. Als ihre alleinerziehende Mutter nach Vietnam reisen muss, bleiben die zwei Mädchen allein zu Hause. Dies darf aber das Jugendamt nicht erfahren, weil sie sonst in ein Heim kommen würden. Als die selbsternannte Spionin Pauline es mitbekommt, droht sie damit, das Geheimnis zu verraten. Obwohl der Film an manchen Stellen unglaubwürdig wirkt, erzählt âEnte gut!â auch von einer schwierigen Kindheit mitten in Deutschland.
Eher alltägliche Probleme stehen im Mittelpunkt weiterer Filme im âKplusâ-Programm. Meistens handeln diese Filme von Mädchen, so etwa âJamais contenteâ (âMiss Impossibleâ) mit der 13-jährigen Aurore im Mittelpunkt. Hauptfigur im chilenischen Film âRaraâ ist die zwölfjährige Sara, die seit der Trennung der Eltern bei der Mutter lebt. Diese hat nun ihre lesbische Orientierung entdeckt und ist nun mit einer jüngeren Frau zusammen. Sara wird in den Streit ihrer Eltern um die elterliche Sorge hineingezogen. Eher für kleinere Kinder sind hingegen die Animationsfilme gedacht: Der bunte âTed Siegers Molly Monsterâ wird ab fünf Jahren, der turbulent erzählte Puppentrickfilm âSolan og Ludvigâ (âLouis & Nolan â The Big Cheeseraceâ ab sechs Jahren empfohlen.
Die Suche nach der eigenen Identität gehört naturgemäà zu den Merkmalen vieler Jugendfilme. Wörtlich geschieht dies im iranischen Beitrag âValderamaâ (Regie: Abbas Amini). Der Junge, der gleich dem kolumbianischen FuÃballstar Carlos Valderrama auffällig gelocktes Haar trägt, hat keine Identität. Er flüchtet aus der Kleinstadt ins ferne Teheran, wo er sich ohne Papiere im Untergrund bewegen muss. Auf einer anderen Ebene suchen ebenfalls nach Identität die jungen Frauen aus einem iranischen Korrektur- und Rehabilitationszentrum. Der Dokumentarfilm von Mehrdad Oskouei porträtiert straffällig gewordene Minderjährige, die wegen Drogenhandel oder sogar Gewaltdelikte hier einsitzen. Mit groÃer Offenheit sprechen sie von ihrem Leben und ihren Träumen, vor allem aber von ihrer Angst, in ihr früheres Leben zurückkehren zu müssen. Die beiden iranischen Filme geben für westliche Zuschauer unbekannte Einblicke in die iranische Gesellschaft. Die eigene Identität muss auch in Paris der aus einer tunesischen Familie stammende 15-jährige Marwan in âMa révolutionâ von Ramzi Ben Sliman finden. Als er zufällig auf die Titelseite einer Zeitung kommt, wird er zum jungen Gesicht des arabischen Frühlings. Marwan entdeckt so seine tunesischen Wurzeln, die bis dahin keine Rolle in seinem Leben gespielt hatten.
Durch eine Reihe der Filme aus dem â14plusâ-Programm zieht sich wie ein roter Faden der Wunsch von Jugendlichen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen jenseits der Erwartungen der Erwachsenen. Häufig führt dies aber in eine Sackgasse, so etwa im russischen Film âTriapichniy Soyuzâ (âRag Unionâ), der von einer anarchistischen Gruppe handelt. Sie nehmen die Datscha von Vanias GroÃmutter, der gerne zur Gruppe gehören würde, in Besitz. Was sie mit ihrem selbstbestimmten Leben anfangen wollen, bleibt allerdings völlig im Unklaren. Ãhnlich ergeht es im chilenischen Film âLas Plantasâ Florencia, die über einen Internet-Sex-Chat Erfahrungen zu sammeln hofft und sich damit auf ein gefährliches Spiel einlässt. Konventioneller erzählt der bulgarische Beitrag âZhaleikaâ (Regie: Eliza Petkova) von der rebellischen Lora, die sich im ländlichen Bulgarien gegen die Traditionen stellt und aus der Enge ausbrechen möchte. Diesen Jugendlichen gemeinsam ist, dass sie über ihr eigenes Leben bestimmen möchten. Woher sie die MaÃstäbe beziehen wollen, nach denen sie dieses selbstbestimmte Leben führen möchten, bleibt freilich unbeantwortet.
Dass die Orientierungslosigkeit allzu häufig jedoch eher von den Erwachsenen herrührt, verdeutlicht der schwedische Beitrag â6Aâ (Regie: Peter Modestij), bei dem der Zuschauer dank der beobachtenden Kamera Zeuge eines Treffens zwischen Eltern, Schülerinnen und einer überforderten Lehrerin wird.
Unter den 14plus-Filmen ragt insbesondere âSairatâ vom indischen Regisseur Nagraj Manjule hervor. Mit einem epischen Gestus und mit einer hervorragenden Kameraführung erzählt der fast dreistündige Film von einer unmöglichen Liebe. Denn Parsha ist zwar der beste Schüler und der Criquet-Mannschaftskapitän. Aber er gehört zu einer niedrigeren Kaste als die schöne, selbstbewusste Aarchi. Doch irgendwann einmal gewinnt Parsha mit seiner Hartnäckigkeit Aarchis Liebe. Kann sie ihren Wohlstand aufgeben, womit sie sich den Zorn ihres standesbewussten Vaters zuziehen würde? Ist ein neues Leben in der GroÃstadt möglich, wo sie niemand kennt? Oder reicht der Arm des in der Lokalpolitik alles kontrollierenden Vaters weit?
In einer Sondervorführung zeigt âGenerationâ die Filme, die acht 12- bis 14-Jährige unter Anleitung des bekannten kurdischen Filmemachers Bahman Ghobadi und seines Teams in den Flüchtlingslagern von Kobane in Syrien und Shingal nahe Erbil im Irak gedreht haben. Mit dokumentarischer bis poetischer Anmutung bieten die Jungen und Mädchen einen Einblick in das Leben von Menschen, die alles verloren haben â deutlich zu sehen etwa, als einmal der 13-jährige Mahmod und seine Schwester das Lager verlassen und in Kobane nach dem Elternhaus suchen. Die ganze Stadt zeigt sich als ein einziger Trümmerhaufen. Einige dieser Kurzfilme von etwa zehn Minuten Dauer lassen auch erahnen, dass Ghobadi womöglich neue Talente für das Filmemachen entdeckt hat. |