SEEFEUER | Fuocoammare
Filmische Qualität:   
Regie: Gianfranco Rosi
Darsteller:
Land, Jahr: Italien, Frankreich 2016
Laufzeit: 108 Minuten
Genre:
Publikum: ab 12 Jahren
Einschränkungen: --
im Kino: 7/2016
Auf DVD: 3/2017


José Garcia
Foto: Weltkino

Das Leben der etwa 4 500 Einwohner auf der etwa 20 Quadratkilometer großen Mittelmeerinsel Lampedusa, die sich zwischen Sizilien und Tunesien erstreckt, war schon immer von dem geprägt, was das Meer bringt. Seit einigen Jahren bringt es vor allem Menschen, tausende Flüchtlinge, die in der verzweifelten Hoffnung auf ein besseres Leben die lebensgefährliche Reise wagen. Der italienische Filmemacher Gianfranco Rosi fuhr im Jahre 2014 nach Lampedusa, um einen Kurzfilm über die Flüchtlingsströme zu drehen. Bald stellte er jedoch fest, "dass sich die Realität stark von dem unterschied, was man in den Medien und der Politik fand, und mir wurde bewusst, dass es unmöglich sein würde, ein so komplexes Gefüge wie das von Lampedusa in wenige Minuten zu pressen". Rosi blieb ein Jahr lang auf der kleinen Mittelmeerinsel. Aus seinen Beobachtungen entstand der abendfüllende Dokumentarfilm "Seefeuer" ("Fuocoammare"), der auf der diesjährigen Berlinale mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet wurde, und nun im regulären Kinoprogramm anläuft.

Der Zuschauer beobachtet das Geschehen aus der Sicht des zwölfjährigen Samuele, der nach der Schule mit seiner Steinschleuder auf der Insel unterwegs ist, manchmal allein, manchmal zusammen mit einem gleichaltrigen Freund. Als der wahre Protagonist des Dokumentarfilmes stellt sich jedoch Dr. Pietro Bartolo heraus, der einzige Arzt auf der Insel. Seit Jahren begleitet er jede Ankunft von Flüchtlingsbooten. Er beurteilt, wer ins Krankenhaus gebracht wird, wer inhaftiert wird und wer verstorben ist ."Fuocoammare" zeigt ihn beispielsweise bei der Untersuchung einer Schwangeren. Dr. Bartolo hat auf seinem Computer eine Sammlung von Bildern zusammengetragen, auf denen sich die Realität des tragischen Schicksals der Migranten widerspiegelt. Der Arzt kommt als Einziger zu Wort, denn Rosi verwendet im Unterschied zu den meisten Dokumentarfilmen keine Interviews. Rosi zieht es vor zu beobachten.

Zu Beginn wird jedoch die Beobachtung fast ausschließlich auf die Tonspur reduziert. Denn in der Nacht hört man zwar die Hilferufe aus einem sinkenden Flüchtlingsboot an die Küstenwache. Zu sehen ist das Boot jedoch nicht. Erst später werden Körper sichtbar. Die Küstenwache in ihren weißen Overalls birgt 206 Lebende und 34 Tote aus dem Meer. Die erschütternden Bilder bilden in "Fuocoammare" jedoch die Ausnahme. Erst gegen Ende zeigt Gianfranco Rosi eine weitere Rettungsaktion, bei der allerdings auch Dutzende von Toten aus dem Bauch eines Schiffes geborgen werden.

Den friedlichen Alltag auf der Insel, für den Samuele und seine Großmutter stehen mögen, kontrastiert "Fuocoammare" mit dem tragischen Geschehen auf dem Meer vor Lampedusa sowie mit einigen wenigen Aufnahmen aus dem Erstaufnahmelager der Insel. In der Unterkunft sind Flüchtlinge aus Nigeria, die eine Saharaüberquerung, aber auch das Gefängnis in Libyen überlebt haben: "Wer die libyschen Gefängnisse überlebt hat, überlebt auch das Meer." Diese Worte stammen aus dem Mund eines rappenden Flüchtlings, der einzige, der so etwas wie Individualität erhält. Denn im Gegensatz zu Samuele und Dr. Bartolo erfährt der Zuschauer die Namen der aus Afrika Geflüchteten nicht, ja nicht einmal ihre Gesichter - mit dieser einzigen Ausnahme - werden sichtbar. Auf der kleinen Insel gibt es zwei gänzlich voneinander getrennte Welten, die parallel existieren, und die nur in der Person des Arztes miteinander in Berührung kommen. Dass auf Lampedusa zwei getrennte Welten nebeneinander existieren, erhält allerdings Symbolcharakter: Auch für die meisten Europäer bleiben die Flüchtlinge anonym.

"Fuocoammare" kann deshalb zwar als ein "Film mit einem Anliegen" bezeichnet werden. Dafür spricht, dass der Film sorgfältig seine Beobachtungen auswählt, ja sogar inszeniert. Dafür gibt es genügende Beispiele, insbesondere in der Art, wie Samueles Leben auf der Insel geschildert wird. Die Szenen wirken kaum wie zufällig entstandene Beobachtungen. Ja, häufig stellt sich beim Zuschauer sogar das Gefühl ein, dass es sich bei Samuele um einen (Kinder-)Darsteller handelt. Die sorgfältige Bildersprache, die "Fuocoammare" von reinen Dokumentationen unterscheidet, verleiht andererseits Rosis Film einen ästhetischen Mehrwert. Mit dem zwar einfachen, aber fast idyllischen Leben von Samuele und seiner Großmutter kontrastieren die realistischen Bilder von Rettungsaktionen und Flüchtlingsunterkunft. Gianfranco Rosis Anliegen, die Gleichgültigkeit der Einheimischen beziehungsweise der Europäer den Flüchtlingen gegenüber dadurch anzuprangern, dass diese so gut wie gesichtslos bleiben, könnte sich allerdings kontraproduktiv auswirken. Vielleicht liegt die mangelnde Kommunikation daran, dass die Flüchtlinge die Insel als Durchgangsstation ansehen. Aber als anonyme Masse, meistens in größeren Gruppen stehend und häufig im Halbdunkel fotografiert, wirken die Flüchtlinge aus Afrika teilweise unheimlich, ja sogar bedrohlich ? ganz im Gegenteil etwa zu den Eritreern in Lisei Caspers Gestrandet, der Flüchtlinge nicht als abstrakten Begriff, sondern als Menschen aus Fleisch und Blut zeigt, wodurch Berührungsängste abgebaut werden können.

Der Filmtitel "Fuocoammare" hat übrigens eine doppelte Bedeutung: Es kann sowohl "brennendes Meer" als auch "Leuchtturm" bedeuten. Auf ihn bezieht sich eine Szene im Film, in der Samueles Großmutter dem Jungen vom Zweiten Weltkrieg erzählt: Es sei "come fuoco a mare" ("wie Feuer auf der See"), während im Radio "Fuocoammare", ein Lied aus eben jener Zeit, läuft.
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