ALLES WAS KOMMT | L Avenir
Filmische Qualität:   
Regie: Mia Hansen-Løve
Darsteller: Isabelle Huppert, André Marcon, Roman Kolinka, Edith Scob, Sarah Le Picard, Solal Forte
Land, Jahr: Frankreich 2015
Laufzeit: 100 Minuten
Genre:
Publikum: Erwachsene
Einschränkungen: --
im Kino: 8/2016
Auf DVD: 3/2017


José García
Foto: Weltkino

Das Leben der Philosophielehrerin Nathalie (Isabelle Huppert) befindet sich an einem Wendepunkt. Bis vor kurzem schien bei der Endfünfzigerin alles in bester Ordnung zu sein: Ihr Beruf als Philosophielehrerin erfüllt sie. Darüber hinaus gibt Nathalie ein vielbeachtetes und immer wieder neu aufgelegtes Lehrbuch in einem Fachverlag heraus. Ihre Ehe scheint seit 25 Jahren stabil zu sein, wobei die Kinder langsam aus dem Haus sind. Doch bald wird dieses wohlgeordnete Leben aus den Fugen geraten. Davon erzählt Mia Hansen-Loeves Spielfilm
"L avenir", der auf der diesjährigen Berlinale den Silbernen Bären für "Beste Regie" gewann und nun unter dem Verleihtitel "Alles was kommt" (ohne Komma!) im regulären Kinoprogramm startet.

Als eine Art Vorbote der großen Umwälzungen kann der Anruf ihrer Mutter um 5 Uhr morgens angesehen werden. Nathalie muss die an Demenz leidende, egozentrische alte Dame (Edith Scob) bald in ein Pflegeheim geben. Ihr Mann Heinz (André Marcon) eröffnet ihr, dass er sie nach einem Vierteljahrhundert Ehe wegen einer Jüngeren verlässt. Auch beruflich gibt es einen Rückschlag: Der Verlag, in dem sie veröffentlicht, findet auf einmal ihr Buch zu kompliziert, weil er sich nun an jüngere Leser wenden möchte. Nur ihr ehemaliger Schüler Fabien (Roman Kolinka) gibt ihr etwas Zuversicht in die Zukunft. So nimmt sie gerne seine Einladung an, zusammen mit ihm und seinen Freunden auf einem Bauernhof ein paar Tage zu verbringen. Sogar einige Studenten aus Deutschland sind angereist. Dort wird viel über Politik diskutiert, aber die anarchistischen Ideen der jungen Menschen sind der Lehrerin, die in ihren jungen Jahren sogar Kommunistin war, inzwischen zu radikal. Der Kontakt mit den "jungen Wilden" hilft Nathalie jedoch, sich besser mit ihrer neuen Lage zu arrangieren, sie als "totale Freiheit" aufzufassen, mit Zuversicht auf das zu schauen, was kommt.

In "Alles was kommt" bietet die in Paris geborene Regisseurin Mia Hansen-Loeve ein filmisches Porträt der Endfünfzigerin. "Für mich sind Filme bewegte Porträts und nur das Kino ist in der Lage, so etwas zu leisten. Es geht darum, etwas festzuhalten, das empfindsam, sinnlich und flüchtig ist - wie der Versuch, einen Zugang zum Nicht-Greifbaren, zum Unendlichen zu finden", führt sie dazu aus.

Um die Entwicklung der Hauptfigur darzustellen, spiegelt sie der Film in zwei Nebenfiguren: Neben Fabien spielt dabei Nathalies Tochter Chloé (Sarah Le Picard), die ein Kind erwartet, eine zwar kleinere, aber doch bedeutende Rolle. Sie ist es, die ihren Vater zur Rede stellt, nachdem sie seine Affäre entdeckt hat. Und der Film endet gerade mit der Geburt ihres Kindes, des ersten Enkelkinds Nathalies. Demgegenüber nimmt Nathalies Sohn Johann (Solal Forte) einen viel kleineren Platz ein.

Obwohl durch diese Ereignisse Nathalies Leben eine ganz neue Wendung bekommt, ereignet sich in "Alles was kommt?" eher wenig. Die Kamera von Denis Lenoir nimmt eine beobachtende Stellung ein und der Schnitt von Marion Monnier verleiht dem Film einen ganz ruhigen, ja bedächtigen Rhythmus: "Was wir wissen müssen, erfahren wir in der Regel nach und nach, wenn wir eine Figur begleiten, ohne dass zusätzlich noch etwas erklärt werden muss. Ich versuche sogar - beim Schreiben wie auch im Schnitt - zu viele Informationen zu vermeiden", erklärt die Regisseurin dazu. Auch emotional scheint Nathalie trotz der verschiedenen Schicksalsschläge nicht aus der Bahn geworfen zu werden. Isabelle Huppert gestaltet sie mit fast stoischem Gleichmut. Andererseits helfen humorvolle Augenblicke über die Schläge hinweg. Dabei spielt etwa die alte Katze von Nathalies Mutter mit dem unheilverheißenden Namen Pandora eine besondere Rolle, die Nathalie über weite Strecken des Films begleitet.

Da die Hauptfigur von "Alles was kommt" eine Philosophielehrerin ist, die in ihrem Beruf ganz aufgeht, nimmt es kaum wunder, dass sich viele der Filmdialoge insbesondere zwischen Nathalie und ihrem ehemaligen Lieblingsschüler Fabien um philosophische Fragen drehen. "Der Mangel des Kinos an Darstellungen von Intellektuellen und die Entwicklung von Ideen hat mich dazu getrieben, einen Film über eine Philosophielehrerin zu machen, die von ihrem Job besessen ist. Am Ende sind Kunst und Philosophie für mich zwei Wege zu ein und derselben Sache, und das ist unsere Verbindung zum Nicht-Sichtbaren. Die Stärke und der Mut, die uns unser Fragen geben kann, bilden den Kern des Films", sagt die Regisseurin dazu.

In der Philosophie scheint jedenfalls Nathalie den Halt zu finden, um den vielen neuen Wendungen in ihrem Leben einen Sinn zu verleihen. Allerdings erschließt sich kaum dem Zuschauer, wie sich die Philosophielehrerin ihre Zukunft - um den Originaltitel des Filmes aufzugreifen - vorstellt. Vielleicht liegt dies an einem gewissen Mangel an dramaturgischer Stimmigkeit, denn "Alles was kommt" zeigt lediglich Momentaufnahmen aus Nathalies Leben, bei dem sich ein roter Faden vermissen lässt. Ebenso vermissen lässt sich eine wie auch immer geartete Öffnung zur Transzendenz, die Nathalies Leben eine größere Grundierung hätte verleihen können.

Dennoch: Mia Hansen-Loeves Spielfilm verdeutlicht die Zerbrechlichkeit von Lebensentwürfen, die durch wenige, aber einschneidende Ereignisse durcheinandergeraten können. Dass sich Nathalie nicht aus der Bahn werfen lässt, sondern mit Zuversicht auf die Zukunft schaut, auch wenn diese unbestimmt bleibt, ist bei aller Unzulänglichkeit die schöne Botschaft von "Alles was kommt".
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