TSCHICK | tschick
Filmische Qualität:   
Regie: Fatih Akin
Darsteller: Tristan Göbel, Anand Batbileg, Mercedes Müller, Anja Schneider, Uwe Bohm, Udo Samel, Claudia Geisler-Bading, Alexander Scheer, Marc Hosemann, Friederike Kempter
Land, Jahr: Deutschland 2016
Laufzeit: 93 Minuten
Genre:
Publikum: ab 12 Jahren
Einschränkungen: --
im Kino: 9/2016
Auf DVD: 2/2017


José García
Foto: Studiocanal

Ein Feuerwehreinsatz auf der Autobahn. Überall Schweine. Plötzlich taucht ein blutverschmierter Junge auf. Die Szene, mit der Fatih Akin seine Verfilmung des Jugendbuches von Wolfgang Herrndorf "tschick" eröffnet, gehört chronologisch eher an das Filmende. Der Film erzählt also in einer Rückblende, begleitet von einer Off-Stimme.

Sie gehört dem 14-jährigen Maik Klingenberg (Tristan Göbel), der von seinen Klassenkameraden als "Psycho" gebrandmarkt wird, auch weil er eher ein Spätentwickler ist. Kein Wunder, dass beispielsweise die angebetete Klassenkameradin zu ihrem Geburtstag so gut wie die gesamte Klasse einlädt, nur nicht Maik. Zu Hause ist die Lage auch nicht besser: Die Mutter hängt an der Wodka-Flasche und der Vater interessiert sich auch nicht besonders für den Jungen. Als kurz vor Abschluss des Schuljahres ein zerrissen aussehender Spätaussiedler aus dem tiefsten Russland mit dem unaussprechlichen Namen Andrej Tschichatschow (Anand Batbileg), der sich deshalb "Tschick" nennt, als neuer Klassenkamerad vorgestellt wird, kann Maik noch nicht erahnen, dass er mit Tschick bald den "besten Sommer von allen" erleben wird.

Als sich die Mutter zur alljährlichen Entziehungskur auf eine "Beautyfarm" und der Vater zu einer "Geschäftsreise" zusammen mit seiner "Sekretärin" verabschiedet, weiß Maik nicht recht, was er mit den Sommerferien anfangen soll. Bis dann eben Tschick in einem rostigen Lada aufkreuzt. Auch wenn Tschick behauptet, der Lada sei "geliehen", wird es nicht nur Maik sofort klar, dass der Junge das Auto einfach hat mitgehen lassen. Obwohl sich Maik zunächst der Aufforderung, "um den Block zu fahren", widersetzen möchte, sind die zwei 14-Jährigen bald unterwegs. Und weil sie weder Handy noch Landkarten mitführen, startet eine Reise ins Ungewisse, irgendwie in Richtung Walachei. Denn "Mein Opa wohnt in der Walachei", so Tschick. Darauf antwortet Maik, das sei nur eine Redewendung, "wie Dingenskirchen". Aber Tschick besteht darauf: "Nein. Mein Opa wohnt in einem Land, das Walachei heißt."

Dieser Dialog gibt eine Kostprobe des Sprachwitzes wieder, der einen Gutteil von "tschick" ausmacht, zu dem Ausdrücke wie "Alter Finne" selbstverständlich dazugehören. So durchleben "der Psycho und der Assi", wie sie von Klassenkameraden auf einer Party umschrieben werden, eine Reihe Episoden auf ihrem Weg durch die sommerliche ostdeutsche Provinz. Zunächst begegnen sie einer offensichtlich alleinerziehenden Mutter (Claudia Geisler-Bading), die mit ihren sechs Kindern auf einem Bauernhof lebt ("Und wo war der Vater?", fragen sich die beiden Jungs). Die nachhaltigste Episode beginnt, als Maik und Tschick der streunenden Isa (Mercedes Müller) begegnen. Da die etwa 18-Jährige unbedingt nach Prag möchte - ungefähr in die gleiche Richtung wie die beiden Jungs -, drängt sie sich Maik und Tschick auf. Obwohl sie das Mädchen zunächst eher widerwillig mitnehmen, gehören die Erlebnisse als Trio zu den schönsten der gesamten Reise.

Als Roadmovie in den neuen Bundesländern - der einzige geografische Bezug im ganzen Film ist das Hinweisschild "Preußlitz 1 Km", westlich von Köthen, zwischen Magdeburg und Halle - erinnert "tschick" an Detlev Bucks "Wir können auch anders" (1993), in dem zwei westdeutsche Analphabeten eine Odyssee in Richtung Osten erleben. Weil sie weder Navi noch Karten mit sich führen, befinden sich Tschick und Maik in einer ähnlichen Situation. Mit Bucks Film hat "tschick" ebenfalls den Dialogwitz sowie den ausgesuchten Soundtrack gemeinsam. Leitmotiv in "tschick" ist Richard Claydermans "Ballade für Adeline" - eine ziemlich gewagte Entscheidung. Denn das 1976 komponierte Klavierstück, so könnte man meinen, müsste heutigen Jugendlichen eher schnulzig vorkommen. Aber in dem Lada war eben nur die eine Kassette. Eine weitere ironische Anmerkung unter den vielen in "tschick". Denn wissen heute Jugendliche überhaupt, wie eine Musikkassette funktioniert?

Nach dem Drehbuch von Lars Hubrich, das Wolfgang Herrndorfs Erfolgsroman in anderthalb Stunden Film umwandelt, setzt Regisseur Fatih Akin einige Akzente. Die Kamera von Rainer Klausmann zeigt beispielsweise schön ausgesuchte Bilder aus der Vogelperspektive vom Lada auf einem Maisfeld, die der Schnitt von Andrew Bird mit Innenaussichten im Wagen dynamisch verknüpft. Zur witzigen visuellen Umsetzung gehört etwa auch Maiks Vorstellung, er würde seinen Vater und dessen Geliebte erschießen. Allerdings gelingt die visuelle Umsetzung nicht immer gleich gut. So mag sich beispielsweise die Begegnung mit dem "Adel auf dem Radl" auf dem Papier witzig ausnehmen. Im Film wirkt sie jedoch eher durchwachsen. Eher zeitgeistbedingt erscheint dagegen Tschicks zusammenhanglose Aussage "Ich stehe nicht auf Mädchen", die wiederum für eine witzige Überlegung seitens Maik ausgenutzt wird: "Für einen Augenblick dachte ich, auch schwul zu werden. Aber die Mädchen gefallen mir viel zu gut."

Einen besonders glücklichen Griff hatte Fatih Akin jedenfalls mit der Auswahl seiner Protagonisten: Sowohl Anand Batbileg, der in "tschick" erstmals vor der Kamera stand, als auch Tristan Göbel, der freilich bereits einige Schauspielerfahrung vorweisen kann, agieren völlig natürlich. Sowohl die jugendliche Sprache als auch ihre Abenteuerlust nimmt ihnen der Zuschauer gerne ab. Die Abenteuer des pubertierenden Duos nehmen sich darüber hinaus als eine Lausbubengeschichte aus, die an einen der großen Klassiker der Jugendliteratur, Mark Twains "Die Abenteuer des Tom Sawyer", erinnert. Maik und Tschick können als moderne Tom Sawyer und Huckleberry Finn bezeichnet werden.
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