NEBEL IM AUGUST | Nebel im August
Filmische Qualität:   
Regie: Kai Wessel
Darsteller: Ivo Pietzcker, Sebastian Koch, Fritzi Haberlandt, Henriette Confurius, Thomas Schubert, Branko Samarovski, Jule Hermann, Karl Markovics
Land, Jahr: Deutschland 2016
Laufzeit: 127 Minuten
Genre:
Publikum: ab 12 Jahren
Einschränkungen: G
im Kino: 10/2016
Auf DVD: 2/2017


José García
Foto: Studiocanal

Als "Aktion T4" wurde nach dem Krieg das von einer Villa in der Berliner Tiergartenstraße 4 aus gesteuerte "Euthanasie"-Programm der Nazis bekannt, in dessen Rahmen mehr als 200 000 Menschen mit körperlicher oder geistiger Behinderung getötet wurden. Nach den Predigten des Münsteraner Bischofs von Galen wurde die Aktion ab 1942 nicht mehr offen und zentral durchgeführt. Dennoch setzte sie sich bis zum Kriegsende fort. Dieses dunkle Kapitel behandelt nun der Spielfilm "Nebel im August" von Kai Wessel (Regie) und Holger Karsten Schmidt (Drehbuch) basierend auf dem 2008 erschienenen Tatsachenroman "Nebel im August. Die Lebensgeschichte von Ernst Lossa" anhand eines Einzelschicksals. Der Film beginnt, als der 13-jährige Ernst (Ivo Pietzcker) als Sohn eines fahrenden Handwerkers (Karl Markovics) und Halbwaise und als "nicht erziehbar" eingestuft, in eine Nervenheilanstalt eingeliefert wird. Klinikdirektor Dr. Veithausen (Sebastian Koch) erscheint als fürsorglicher Arzt, der sich liebevoll um seine Schützlinge kümmert. Bald stellen Ernst und die katholische Ordensschwester Sophia (Fritzi Haberlandt) fest, dass Anstaltsinsassen getötet werden, zumal Krankenschwester Edith Kiefer (Henriette Confurius) offensichtlich nur zu diesem Zweck in die Anstalt kommt. Ernst versucht, Widerstand zu leisten. Als es auch für ihn brenzlich wird, plant er zusammen mit seiner ersten Liebe Nandl (Jule Hermann) die Flucht.

Ivo Pietzcker spielt den 13-jährigen Ernst mit Intensität und Natürlichkeit. Verleiht die Hauptfigur dem Film tiefe Emotionalität, so erhält er die gebührende Komplexität in der von Sebastian Koch glaubwürdigen Charakterzeichnung von Dr. Veithausen. Dieser ist alles andere als ein Monster, sondern von der Pseudowissenschaft "Eugenik" durchdrungen. Besonders deutlich wird es in einer Szene, als er den zusammengerufenen Kollegen stolz seine jüngste Entwicklung vorstellt: eine Suppe, der sämtliche Nährstoffe entzogen wurden. Dieser Tod durch langsames Verhungern bringt die Perversität des ganzen Rassenhygiene-Systems genauso zum Ausdruck wie die Giftspritzen, die den Todeskandidaten verabreicht wurden.


Interview mit Regisseur Kai Wessel zu seinem Spielfilm "Nebel im August"

Die "Aktion T4" ist längst etwa durch die Predigten des Bischofs von Galen oder auch durch den im Auftrag Goebbels´ entstandenen Film "Ich klage an" bekannt, der den Widerstand der Bevölkerung gegen die Euthanasie brechen sollte. Wie kommt es aber, dass Sie jetzt "Nebel im August" gedreht haben?

Der Produzent Ulrich Limmer ist vor etwa acht Jahren auf das Buch "Nebel im August" gestoßen. Er war davon überzeugt, dass man diese Geschichte erzählen muss. Deshalb nahm er Kontakt zum Autor Robert Domes auf und zu Michael von Cranach, dem Direktor des Bezirkskrankenhauses Kaufbeuren. Als Von Cranach die Leitung des Krankenhauses in den 1980er Jahren übernahm, begann er, die Geschichte des Hauses während der Nazizeit aufzuarbeiten. So stieß Von Cranach auf Ernst Lossa, der dort 1944 umkam.

Und wie sind Sie zum Projekt gekommen?

Ich bin verhältnismäßig spät dazu gekommen, etwa anderthalb Jahre bevor wir anfingen zu drehen. Ich habe zwar schon mehrere Filme über das Dritte Reich gedreht. Aber als Ulrich Limmer mich anrief, dachte ich: Wer soll sich eine solche Geschichte ? auch noch mit Kindern ? anschauen? Als ich jedoch das Drehbuch gelesen habe, war ich auch davon überzeugt, dass diese Geschichte erzählt werden muss. Ich wollte mit diesem Film ein Loblied an die Kinder, an die Fantasie der Kinder und deren Überlebenswillen erzählen. Als ich "Die Flucht" (2007) über die große Ostpreußenflucht im Winter 1944 drehte, habe ich viele Augenzeugenberichte gelesen. Darin heißt es über die überlebenden Kinder, dass sie diese Zeit immer auch als großes Abenteuer in Erinnerung behalten haben. Von dieser Diskrepanz wollte ich erzählen.

Inwieweit hat Ihr Film auch Unterhaltungswert?

Wir machen ja keine Dokumentation. Eine Dokumentation kann präziser und umfassender sein als Fiktion. Die Stärke der Fiktion liegt aber darin, ein Umfeld mit verschiedenen Aspekten sinnlich und emotional zu erzählen. In der Fiktion haben wir die Freiheit, beispielsweise den Anstaltsleiter als Verdichtung dessen, was wir heute über das Euthanasieprogramm wissen, darzustellen.

Wie beschreiben Sie den Anstaltsleiter Dr. Walter Veithausen?

Sebastian Koch war es sehr wichtig, und ich bin ihm dafür dankbar, den Anstaltsleiter nicht schwarzweiß zu zeichnen, nicht der Gefahr zu verfallen, ihn mit Hakenkreuz auf der Stirn zu zeichnen. Dr. Veithausen war Eugeniker. Die Eugenik haben nicht erst die Nazis erfunden. In den 1920er Jahren ? und schon vorher ? hatte sich die Psychiatrie damit beschäftigt. Die damals noch junge Wissenschaft stellte die Frage, was mit Menschen geschehen sollte, die sie nicht erreichte: Kann man sie "von ihrem Leid befreien?" und "Wer darf das?" Die Nazis haben dann die Klinikleiter gleichgeschaltet. Die, die nicht auf Linie waren, wurden durch Rassehygieniker ersetzt.

Und die anderen Figuren: die Ordensschwester Sophie und die Krankenschwester Edith Kiefer?

Es gab auch Menschen, die zweifelten, die an das Gute glaubten. Gläubige Menschen kamen mit der Aktion in Konflikt, weil sie ein Eingriff in die Schöpfung war. Gerade im katholischen Denken darf das nur der Herr selber. Eine Ordensschwester muss deshalb mit diesem System in Konflikt geraten. Edith Kiefer wurde schon im Dritten Reich sozialisiert. Dieses Denken hat sie schon in der Schule aufgenommen, und deshalb ist sie komplett davon überzeugt, dass sie etwas Gutes tut, dass sie die Kinder erlöst. Solche Menschen gab es. Je jünger sie waren, desto mehr infiltriert waren sie vom System. Für mich war sie eine Art Tochter von Mengele.

Gibt es nicht andererseits eine gewisse Sättigung mit Filmen aus der Nazizeit?

Die Gefahr besteht, dass sich die meisten Menschen nicht mehr damit beschäftigen, sondern nur noch eine elitäre Gruppe. "Sophie Scholl ? Die letzten Tage" war meines Erachtens der letzte richtige Kinoerfolg. In letzter Zeit gelang es im Fernsehen mit "Unsere Mütter, unsere Väter" mit einer etwas anderen Herangehensweise. Aber als Gesellschaft dürfen wir diese Zeit nicht vergessen. Nie zuvor war ein Land in so kurzer Zeit so zerrüttet ? nie zuvor hat ein Land seine Werte so schnell vergessen wie in diesen zwölf Jahren. Deshalb sollen wir uns fragen, was wir aus der Vergangenheit lernen können, damit wir nicht immer wieder dieselben Fehler machen. Veithausen versucht eine Linie zu finden, wem er helfen und wem er nicht mehr helfen kann. Diese Linie ist dünn und schwierig zu ziehen. Wir erleben das gerade in der Frage der Sterbehilfe. Es ist etwas anderes als Euthanasie, weil Sterbehilfe auf Freiwilligkeit beruht. Aber auch hier stellt sich die Frage, wo die Linie gezogen werden soll. Ein Allgemeinmediziner kann zu seinem Patienten sagen: "Diese Depression ist in drei Monaten vorbei. Jetzt musst Du da durch." Er kann sich aber auch anders entscheiden, und dies als Ausgangspunkt für Sterbehilfe nehmen.

Das gilt auch für ungeborene Kinder ? siehe Pränatal-Diagnostik ...

Michael von Cranach sagt, neunzig Prozent der Kinder mit Down-Syndrom werden heute abgetrieben. Er erzählte von einer Frau, die mit ihrem vier- oder fünfjährigen Kind mit Down-Syndrom zum Arzt geht, und der Arzt sagt: "Warum haben Sie es damals nicht abtreiben lassen?" Diese Haltung ist für die Gesellschaft zumindest nicht rühmlich.

Was ist Ihr Zielpublikum? Meinen Sie, dass sich junge Leute mit Ernst Lossa identifizieren können?

Ich hoffe sehr, dass Jugendliche sich mit seinem Mut und seiner Hilfsbereitschaft identifizieren können. Und dass sie in sich hineinhören, was sonst noch bei ihnen zum Klingen gebracht wird. Wir versuchen, verschiedene Gruppen anzusprechen. Ich glaube, die heutigen 14-Jährigen sind mittlerweile so erwachsen und wissen nicht mehr und nicht weniger über diese Zeit als die meisten Erwachsenen, sodass es große Schnittmengen gibt. Ich hoffe, dass sich Lehrer und Schulen entscheiden, die Geschichte von Ernst Lossa in den Unterricht einzubeziehen.
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