AUF EINMAL | Auf einmal
Filmische Qualität:   
Regie: Asli Özge
Darsteller: Sebastian Hülk, Julia Jentsch, Hanns Zischler, Sascha Alexander Gersak, Luise Heyer
Land, Jahr: Deutschland / Niederlande / Frankreich 2016
Laufzeit: 112 Minuten
Genre:
Publikum: Erwachsene
Einschränkungen: X
im Kino: 10/2016


José García
Foto: MFA +

Ein einziges Ereignis kann ein ganzes Leben auf den Kopf stellen. Auf einmal ist alles anders als vorher, irgendetwas unwiederbringlich verloren gegangen. Darauf spielt der Filmtitel "Auf einmal" des Spielfilmes der türkischstämmigen Regisseurin Asli Özge an, der in der Sektion "Panorama Special" der diesjährigen Berlinale uraufgeführt wurde und nun im regulären Kinoprogramm startet. "Auf einmal" ist der erste deutschsprachige Kinofilm der in Istanbul geborenen, in Berlin lebenden Regisseurin.

Ein junger Mann und eine junge Frau stehen rauchend auf einem Balkon. Karsten (Sebastian Hülk) hatte zu einer Party eingeladen. Nun sind alle Gäste bis auf Anna (Natalia Belitski) gegangen, die Karsten vorher nicht kannte, von der er aber offensichtlich fasziniert ist. Anna erzählt, sie habe an dem Tag Geburtstag. Plötzlich bricht die junge Frau zusammen. In Panik rennt Karsten zur Ambulanz des sich in der Nähe befindlichen Krankenhauses. Doch die Ambulanz ist geschlossen. Und als Karsten zurückkehrt, ist Anna tot. Warum er nicht sofort den Notarzt angerufen habe, statt wertvolle Minuten mit seinem Lauf zum Krankenhaus zu verlieren, wird ihn die Polizei fragen. Diese Frage steht im Grunde über dem ganzen Film.

Mit dieser Frage hängt jedoch eine zweite zusammen, die sich immer mehr aufdrängt: Wer war eigentlich Anna? Bald stellt es sich heraus, dass keiner der Partygäste sie kannte, dass sie sich in die Party einfach hineingeschmuggelt hatte. Karstens Freundin Laura (Julia Jentsch), die an dem Abend auf Geschäftsreise war, wird nach ihrer Rückkehr misstrauisch, zumal in der Wohnung bald eine Strumpfhose auftaucht, die nicht ihr, sondern offensichtlich Anna gehörte. Lauras beste Freundin Judith (Luise Heyer) vermutet sogar, dass Karsten mit Anna eine Affäre hatte. Als die Familie der Toten gegen Karsten klagt, beauftragt Karstens um seinen guten Ruf besorgter Vater (Hanns Zischler) mit der Verteidigung seines Sohnes einen jungen Rechtsanwalt, der mit Karsten offensichtlich von früher bekannt ist. Darüber hinaus verbannt Karstens Chef den jungen Mann buchstäblich in den Keller, in ein Büro ohne Publikumsverkehr. Dass auch er um den guten Ruf der Bank besorgt ist, mag verständlich erscheinen. Für Karsten bedeutet dies aber einen Schlag, der ihn ins berufliche Abseits stellt. Nun wenden sich alle von ihm ab. Sogar seine Mutter fragt: "Warum hast du so gehandelt?" Polizeiliche Ermittlungen, ein Rechtsanwalt, später eine Gerichtsverhandlung. Und dabei die Frage, ob es sich um Mord, Totschlag oder wenigstens um unterlassene Hilfeleistung gehandelt habe. Dennoch handelt Asli Özges Film nur an der Oberfläche von einem Kriminalfall. Zur ausgeklügelten Dramaturgie von "Auf einmal" gehört es, dass der Zuschauer immer auf dem Wissensstand von Karsten bleibt. Der junge Mann ist nicht nur die zentrale Figur in Özges Films, es gibt in "Auf einmal" darüber hinaus keine einzige Szene ohne ihn.

Die Krimihandlung bildet jedoch lediglich die Rahmenhandlung für einen Film, der sich immer mehr in Richtung Drama oder auch Sittenbild einer kleinstädtischen Gesellschaft entwickelt. Dabei spielt die Stadt eine wichtige Rolle: "Ich wollte auf jedem Fall in einem Ort mit Bergen drehen, einen von vier Seiten visuell geschlossenen Ort, der den Eindruck des Eingesperrtseins hervorruft. Wir haben dafür lange gesucht und Altena gefunden", führt dazu Asli Özge aus. Altena gehört mit seinen 17 000 Einwohnern zum Märkischen Kreis im Sauerland. In einer geschlossenen Gesellschaft zeitigt Karstens Verhalten sofort Wirkung: Familie, Freunde, die Firma, die Polizei, ja sogar sein Anwalt, der irgendwann einmal nur Dienst nach Vorschrift leistet, wenden sich von ihm ab. Karsten steht nun isoliert da.

Kameramann Emre Erkmen setzt die melancholische Grundstimmung in Bilder um, in denen häufig kalte graue Töne und typisch herbstliche, rostrote Farben vorwiegen, die aber auch eine klaustrophobische Stimmung erzeugen. Dennoch: "Ich wollte Melancholie, aber keine depressive Stimmung haben", sagt die Regisseurin. Trotz aller Sorgfalt stimmt im Produktionsdesign nicht alles, Stichwort brennende Osterkerze in der Kirche ? im Herbst!

"Auf einmal" stellt in den Mittelpunkt nicht so sehr die Frage nach Schuld ? irgendwann einmal nimmt sogar Annas Mann (Sascha Alexander Gersak) die Klage gegen Karsten zurück. Özges Film handelt vielmehr vom Misstrauen und von Imagepflege in der Gesellschaft: "Im Film ist jeder Figur ihr eigenes Image am Wichtigsten. Daher handelt auch der Charakter der Laura ähnlich wie Karsten" (Asli Özge). Dabei ist andererseits Karsten alles andere als eine gemeinhin positive Figur. Sebastian Hülk verkörpert ihn mit der nötigen Ambivalenz, damit der Zuschauer im Unklaren gelassen wird: Jemand wie Karsten ist alles zuzutrauen, erst recht als der Außenseiter, zu dem er nach Annas Tod und dem Beginn der polizeilichen Ermittlungen wird.

Ganz gleich, wie sich Karsten verhält, macht er es falsch. Denn er kann nicht verhindern, von der Gesellschaft isoliert zu werden. Die vermeintlich solidarische Gesellschaft einer Kleinstadt, in der sich alle oder wenigstens alle Gleichaltrigen kennen, zeigt Risse. Denn wo jeder auf sein Image bedacht ist, möchte er um jeden Preis vermeiden, dass der Imageverlust eines Gesellschaftsmitglieds sein eigenes gesellschaftliches Bild beschädigt. Insofern bietet "Auf einmal" ein Sittengemälde, in dem es um mangelnde Loyalität, um fehlende Solidarität, letztlich aber um die Frage nach Sein und Schein geht.
Diese Seite ausdrucken | Seite an einen Freund mailen | Newsletter abonnieren