MAIKÄFER, FLIEG! | Maikäfer, flieg!
Filmische Qualität:   
Regie: Mirjam Unger
Darsteller: Zita Gaier, Ursula Strauss, Gerald Votava, Konstantin Khabensky, Bettina Mittendorfer, Heinz Marecek, Krista Stadler
Land, Jahr: Österreich 2016
Laufzeit: 109 Minuten
Genre:
Publikum: ab 12 Jahren
Einschränkungen: --
im Kino: 4/2017
Auf DVD: 1/2017


José Garcia
Foto: W-film

Im Jahre 1973 veröffentlichte die 1936 geborene Kinderbuchautorin Christine Nöstlinger unter dem Titel "Maikäfer, flieg!" ihre Erinnerungen an das Kriegsende in Wien und Umgebung auf kindgerechte Art. Die Wiener Regisseurin Mirjam Unger hat den Roman nun zusammen mit ihrer Mitdrehbuchautorin Sandra Bohle für die große Leinwand adaptiert. Den Filmemacherinnen ist es insbesondere gelungen, der Modernisierungsfalle zu entgehen.

Wien im April 1945. Die neunjährige Christine (Zita Gaier) spielt in den Trümmern, wo einst ihr Zuhause stand, und findet eine intakte Weihnachtskugel. Die Mutter (Ursula Strauss) will mit ihren Kindern die Stadt verlassen, da sich die Rote Armee der Stadt nähert. Die ausgebombten Großeltern (Krista Stadler, Heinz Marecek) sind verzweifelt, insbesondere der Großvater macht einen resignierten Eindruck. Zusammen mit Mutter und älterer Schwester flüchtet Christine aufs Land. In einer leerstehenden Nazi-Villa in Neuwaldegg finden sie Zuflucht. Die drei bleiben aber nicht lange allein: Zunächst stößt der Vater (Gerald Votava) dazu, der von Granatsplittern verletzt aus dem Lazarett desertiert ist, so dass er zunächst einmal vor den sich zurückziehenden Deutschen, später vor den vorrückenden Russen versteckt werden muss. Später kommt noch die Hausherrin der Villa, Frau von Braun (Bettina Mittendorfer), mit ihrem Sohn Gerald (Lino Gaier) dazu.

Schließlich stehen die ersehnten und gleichzeitig gefürchteten Russen vor der Tür. Die Szene mit deren Ankunft gibt dem Film den vorherrschenden Ton vor: Während sich die Erwachsenen (die Frauen aus naheliegenden Gründen, der Vater als ehemaliger Soldat, dessen Uniform Christines Mutter hastig im Ofen verbrennt) fürchten, überwiegt beim Kind die Neugier. Ihre Off-Stimme dazu: "Lange hab ich auf die Russen gehofft. Weil sich endlich etwas ändern soll." Die Soldaten der Roten Armee beziehen ihr Quartier in der Villa. Die meisten saufen, einige zerschießen die ganze Einrichtung. Aber da gibt es noch den jüdischen Koch Cohn (Konstantin Khabensky), der von seinen eigenen Leuten verspottet wird, und in dem das Mädchen einen echten Freund findet ? nicht umsonst lautet der vollständige Titel von Christine Nöstlingers Roman "Maikäfer, flieg! Mein Vater, das Kriegsende, Cohn und ich".

Christine ("Christl") hat in ihrem kurzen Leben nichts anderes erlebt als Krieg. Obwohl ihr die Gefahren bewusst sind, legt sie eine kindliche Unbeschwertheit an den Tag, die ihr hilft, auch in dieser außergewöhnlichen Situation die schönen Seiten des Lebens zu finden. Mirjam Ungers Film erzählt konsequent aus der Sicht des Kindes, was durch die Kameraperspektiven von Kamerafrau Eva Testor sowie durch den Rhythmuswechsel unterstrichen wird. Denn die aufgeweckte Christl beobachtet ihre Umwelt wie durch ein Kaleidoskop ? was bildlich dadurch verdeutlicht wird, dass das Mädchen immer wieder die Welt durch die von ihr anfangs geborgene bunte Christbaumkugel beobachtet. "Diese Ambivalenz von Krieg und kindlicher Wahrnehmung dessen, was die Erwachsenen als Katastrophe empfanden, ist auch für meine Verfilmung wesentlich", führt dazu Mit-Drehbuchautorin und Regisseurin Mirjam Unger aus.

Durch eine Art Kaleidoskop zeichnen Sandra Bohle und Mirjam Unger die österreichische Gesellschaft an der Schwelle vom Krieg zur Nachkriegszeit. Christines Eltern waren nie Nazis. Heute erinnert sich Christine Nöstlinger: "In der Gegend, in der ich aufgewachsen bin, gab es viele Sozialdemokraten und Kommunisten. Ich habe also als kleines Kind immer gehört, dass der Krieg verloren werden muss und hinterher langsam die goldenen Zeiten anbrechen werden." Anders sieht es bei der ehemaligen Eigentümerin der Villa aus, die Offizierswitwe Frau von Braun, die zunächst Christls Mutter von oben herab behandelt, sich aber mit den Verhältnissen arrangiert. Die neuen Nachbarn sind freilich regimetreu. Frau Engel ("der Erzengel") bezeichnet die Neunjährige sogar wegen ihrer Unvoreingenommenheit gegenüber den sowjetischen Soldaten als Volksverräterin. Die in "Maikäfer, flieg!" dargestellte österreichische Gesellschaft zeichnet sich denn auch durch stillen Widerstand auf der einen, Opportunismus und fortdauernde Nazisympathie auf der anderen Seite aus.

Auch die Soldaten der Roten Armee werden nuancenreich gezeichnet. Natürlich gibt es insbesondere unter den Frontsoldaten Randalierer, aber der kommandierende Major (Denis Burgaslijew) erweist sich als besonnener Mann. Christl erfährt allerdings von der Soldatin Ludmilla (Lissy Pernthaler), warum die Rotarmisten so wütend auf die Deutschen sind: In der Sowjetunion haben deutsche Soldaten gewütet, Menschen ermordet, Dörfer zerstört und Kriegsverbrechen begangen.

Die erwachsenen Schauspieler, insbesondere Ursula Strauss und Gerald Votava als Christls Eltern, wirken glaubwürdig in der Rolle der Mutter, die ihre Kinder in schwieriger Lage beschützen will, beziehungsweise des Vaters, der sich zwar verängstigt versteckt, aber im entscheidenden Augenblick ebenfalls die Familie zu beschützen weiß. Besonders authentisch jedoch agiert Zita Gaier, die Christl mit Neugier, aber auch mit einer sympathischen Widerspenstigkeit gestaltet. Dadurch bleibt kein Platz für Pathos. Etliche witzige Momente wirken dem naturgemäß schweren Sujet entgegen. Mirjam Unger beschönigt zwar keineswegs den Krieg und die Wirren des Kriegsendes. Ihr gelingt es aber, diese Zeit durch die Augen eines Kindes zu sehen, das sie auch mit ihrem unbeschwerten Umgang mit allen Menschen als Abenteuer erlebt.
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