ROSEMARI | Rosemari
Filmische Qualität:   
Regie: Sara Johnsen
Darsteller: Ruby Dagnall, Tuva Novotny, Laila Goody, Helga Guren, Tommy Kenter
Land, Jahr: Norwegen, Dänemark, Deutschland 2016
Laufzeit: 95 Minuten
Genre:
Publikum: ab 16 Jahren
Einschränkungen: D, S
im Kino: 5/2017
Auf DVD: 12/2017


José García
Foto: Farbfilm

Ein Paar verabschiedet sich. Unn Tove (Tuva Novotny) eröffnet ihrem Liebhaber Klaus (Tommy Kenter), dass sie sich nicht mehr werden sehen können: "Ich werde heiraten." Der naheliegenden Frage, warum Unn Tove denn jemand heiratet, den sie nicht liebt, geht die norwegische Drehbuchautorin und Regisseurin Sara Johnsen gar nicht nach. Denn während der Hochzeitsfeier in einem Restaurant ereignet sich etwas, was den Spielfilm "Rosemari", der in Deutschland erstmals als Eröffnungsfilm der Nordischen Filmtage Lübeck Premiere feierte, und nun im regulären Kinoprogramm startet, in eine ganz andere Richtung führt: Unn Tove findet ein neugeborenes Baby auf der Toilette des Restaurants. Die Mutter hatte es offenbar gerade dort bekommen und zurückgelassen. Die Braut übergibt das neugeborene Mädchen den Behörden.

Sechzehn Jahre später taucht bei Unn Tove die inzwischen 16-jährige Rosemari (Ruby Dagnall) auf. Obwohl sie bei ihren Pflegeeltern eine behütete Kindheit erlebt hat, möchte sie unbedingt wissen, wer ihre Eltern sind. Anhand von Krankenhausakten hat sie Unn Toves Adresse in dem Glauben herausgefunden, sie sei ihre Mutter. Zwar klärt die inzwischen als Fernsehjournalistin tätige Unn Tove die resolute Rosemari auf. Aber sie schließt mit ihr einen Pakt: Sie will dem Mädchen helfen, die Mutter zu finden. Als Gegenleistung soll sich Rosemari von einer Kamera begleiten lassen, damit die Suche nach der Mutter für ein Fernsehprogramm dokumentiert wird. Dazu hat die Journalistin ihre Kollegin und beste Freundin Hilde (Laila Goody) überreden können. Da Unn Tove nun geschieden ist und ihre zwei Kinder gerade mit deren Vater in Urlaub gefahren sind, hat sie auch die Zeit, sich mit Rosemari auf dieses Abenteuer einzulassen.

Die zwei ungleichen Frauen reisen durch ganz Norwegen, finden Spuren von Rosemaris Eltern und landen in Kopenhagen bei einem ehemaligen Pornoproduzenten, der die Wahrheit über Rosemaris Zeugung und Geburt kennt. Der Weg zu den Eltern des Mädchens führt aber auch zu Unn Toves ehemaligem Freund Klaus, der mittlerweile als Koch arbeitet und zu dem sie immer noch Kontakt hat. Allerdings findet sie ihn zu unzuverlässig, um die Beziehung wieder von vorne zu beginnen. Sara Johnsens Film lotet zwischenmenschliche Beziehungen und insbesondere das Mutter-Tochter-Verhältnis aus. Es gibt zwar viele Filme, in denen ein junger Mensch nach seinen leiblichen Eltern sucht, so etwa der belgische Spielfilm "Alle Katzen sind grau". In ihrem Drehbuch wendet Sara Johnsen jedoch einen Kunstgriff an, um einen Perspektivenwechsel einzuführen: Dadurch, dass die Journalistin eine Dokumentation über Rosemaris Suche dreht, verschiebt sich teilweise der Fokus. Nun fragt sich Unn Tove, was wäre wenn sie wirklich Rosemaris Mutter wäre, oder wenn sie ihre eigentliche Liebe Thomas geheiratet hätte. Hat sie damals die falsche Entscheidung getroffen, als sie sich von Thomas verabschiedete, um einen anderen zu heiraten? Dass sie all die Jahre noch mit Thomas in Verbindung geblieben ist, spricht doch dafür, dass sie noch etwas für ihn fühlt. Aber vielleicht waren oder sind für sie Gefühle nicht ausreichend, um ein gemeinsames Leben (wieder) zu beginnen. Tuva Novotny gestaltet all die teilweise gegensätzlichen Empfindungen natürlich-glaubwürdig.

Weil aber "Rosemari" insbesondere von der Interaktion zwischen den beiden Protagonistinnen lebt, sticht die junge Ruby Dagnall heraus, die hier ihr Spielfilmdebüt liefert. Sie macht die Entschlossenheit, mit der Rosemari handelt, aber auch die unterschwellige Verletzung, die ihr das Ausgesetzt-Worden-Sein als Neugeborene hinterlassen hat, sichtbar. Rosemari will nicht nur wissen, wer ihre leiblichen Eltern sind. Sie möchte auch verstehen, warum ihre Mutter einfach nach ihrer Geburt verschwand, was für Gründe sie dazu veranlassten. Sara Johnsen umschifft jedes Pathos nicht nur dank eines Drehbuchs, das die zwei Hauptfiguren nuanciert zeichnet, sondern auch durch eine lebensnahe Regie, etwa auch durch die Handkamera von Hélene Louvart, die immer sehr nah an den Protagonisten bleibt.

Die elliptische Erzählweise und die damit einhergehende nicht ganz geradlinige Handlung passt hervorragend zu der Achterbahn der Gefühle, die beide Protagonistinnen erleben. Dazu kommen einige komische Augenblicke, in die sich aber auch eine gewisse Wehmut einschleicht, so etwa als sich Rosemari ? noch immer im Glauben, dass Unn Tove ihre Mutter sei ? Einlass in deren Haus verschafft und dabei auf der Suche nach Erklärungen Familienfotos betrachtet. Das plötzliche Auftauchen Rosemaris in ihrem Leben und die Erinnerung an die eigenartigen Umständen, unter denen sie einst das Baby fand, lässt in Unn Tove die Frage aufkommen, ob nicht auch sie in ihrem Leben falsche Entscheidungen getroffen hat. Falsche Entscheidungen traf allerdings auch Rosemaris Mutter. Dies macht Drehbuchautorin und Regisseurin Sara Johnsen unmissverständlich deutlich, als die Tochter und die Fernsehjournalistin sie nach langen Umwegen nun endlich finden.

"Rosemari" hätte ein desillusionierender, ja sogar ein zynischer Film über falsche Lebensentwürfe werden können. Die hervorragenden Schauspielerinnen, die diese Figuren authentisch gestalten, aber auch die offensichtliche Zuneigung, mit der Sara Johnson sie gezeichnet hat, machen dennoch Hoffnung. "Rosemari" ist zwar ein Film über vertane Chancen, aber auch über die Möglichkeit, daraus zu lernen, und eventuell ein neues Leben zu beginnen.
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