EIN SACK VOLL MURMELN | Un sac de billes
Filmische Qualität:   
Regie: Christian Duguay
Darsteller: Dorian Le Clech , Batyste Fleurial Palmieri, Patrick Bruel, Elsa Zylberstein, Christian Clavier, Bernard Campan, Kev Adams
Land, Jahr: Frankreich, Kanada, Tschechien 2017
Laufzeit: 133 Minuten
Genre:
Publikum: ab 12 Jahren
Einschränkungen: --
im Kino: 8/2017
Auf DVD: 1/2018


José García
Foto: Weltkino

Im Jahre 1973 veröffentlichte Joseph Joffo seine Kindheitserinnerungen während des Zweiten Weltkrieges in Romanform: "Un sac de billes" ("Ein Sack voll Murmeln") erzählt von einer jüdischen Familie, die sich im Mai 1942 trennt, um vom besetzten Paris in den von den Deutschen nicht besetzten südlichen Teil Frankreichs zu gelangen. Der frankokanadische Regisseur Christian Duguay verfilmt den Roman konsequent aus der Kinderperspektive des zu Beginn der Handlung erst 10-jährigen Jojo (Dorian Le Clech) einschließlich Off-Stimme, die freilich eher zurückgenommen eingesetzt wird.

Begleitet von Klaviermusik läuft ein Junge eine Straße hinunter. Im August 1944 sind die Straßen von Paris von französischen und britischen Fahnen gesäumt. "Alles ist gleich", lautet sein Fazit. Nun setzt die Rückblende ein, in der Jojos Geschichte erzählt wird. Im Winter spielen auf den verschneiten Straßen der französischen Hauptstadt er und sein älterer Bruder Maurice (Batyste Fleurial Palmieri) mit Murmeln. Eine scheinbar idyllische Kindheit, die jedoch immer gefährlicher wird.

Als im Mai 1942 das Tragen des Judensterns zur Pflicht wird, erfahren Jojo und Maurice die Ablehnung seitens der meisten ihrer Mitschüler. Der Friseursalon seines Vaters Roman (Patrick Bruel) wird auch von vielen gemieden. Vater Roman und Mutter Anna (Elsa Zylberstein) schicken ihre jüngeren Kinder mit 5 000 Francs nach Südfrankreich. Sie sollen ihre älteren, sich bereits in Sicherheit befindlichen Brüder Henri und Albert im Mittelmeerstädtchen Menton treffen. Die Eltern wollen nachkommen.

Romans Anweisungen an seine Kinder: Sie sollen die Menschen suchen, die Binnenflüchtlinge über die Grenze zwischen dem besetzten und dem "freien" Teil Frankreich unter dem Vichy-Regime bringen. Ganz wichtig aber: Unter gar keinen Umständen dürfen sie sagen, dass sie Juden sind. Diese Lektion lernt Jojo auf schmerzliche Weise: Nachdem sein Vater ihn mehrfach fragt, ob er Jude sei, und der Junge mit "Nein" antwortet, verpasst ihm Roman jeweils eine schallende Ohrfeige: "Es ist besser, eine Ohrfeige auszuhalten, als zu sterben, weil man Angst davor hat." Dann erklärt Roman seinen Söhnen, auch er habe als Kind vor den Pogromen aus Russland fliehen müssen. Sein Vater habe ihn genauso weggeschickt, wie er nun Maurice und Jojo wegschicken muss.

Für die zwei Brüder beginnt eine Odyssee durch halb Frankreich, bei der sie ihre Eltern schmerzlich vermissen und auch trotz der Warnung des Vaters immer wieder Angst spüren. Denn Roman konnte seine Kinder etwa nicht gegen die Brutalität, ja Obsession wappnen, mit der ein Nazioffizier Juden zu entlarven sucht. Dennoch erfahren die Kinder ihre Reise auch als ein großes Abenteuer. Darüber hinaus begegnen sie immer wieder hilfsbereiten Menschen, etwa einem Schlepper, der im Gegensatz zu den "offiziellen" Menschenschmugglern für wenig Geld die beiden sicher über die Grenze bringt und nicht wegrennt, als deutsche Soldaten auftauchen. Dergleichen, als der von den deutschen Besatzern zwangsverpflichtete jüdische Arzt Dr. Rosen (Christian Clavier) die Brüder untersuchen soll. In zwei entscheidenden Augenblicken erhalten sie auch von katholischen Priestern lebensrettende Hilfe. Die Familie kann zwar in Nizza eine kurze Zeit zusammen verbringen. Aber auch dort sind sie nicht mehr sicher, als nach Mussolinis Tod die Besatzung der gemütlichen Italiener von deutschen Soldaten übernommen wird. Wieder einmal müssen sie getrennte Wege gehen ? mit ungewissem Ausgang.

Regisseur Christian Duguay und seine Drehbuch-Koautoren Alexandra Geismar, Jonathan Allouche und Benoît Guichard flechten hin und wieder lustige Augenblicke in die Handlung ein, besonders zu Beginn, als Jojo und Maurice noch unbeschwerte Streiche spielen können. So verdecken sie etwa einmal das Schild "Jüdisches Geschäft" am Friseurladen des Vaters, so dass ihn zwei SS-Offizier betreten, die sich von der Frisierkunst und der Bedienung ganz angetan zeigen. Die Mischung aus Abenteuerlust und Angstzuständen setzt Kameramann Christophe Graillot in dem Kontrast zwischen den weiten Landschaften und den unbeschwerten Bildern etwa an der Mittelmeerküste einerseits und der Enge in Notunterkünften und Heimen andererseits um. Graillot gebührt auch die Anerkennung, mit einem beispielsweise an den Kulissen erkennbar bescheidenen Budget nicht nur emotional ansprechende, sondern auch ästhetische Bilder hervorgebracht zu haben. Immer wieder setzt Christian Duguay die titelgebenden Murmeln ins Bild, die Jojos Kindheit, aber auch deren Verlust versinnbildlichen.

Denn "Ein Sack voll Murmeln" erzählt ebenfalls vom Reifeprozess eines Jungen in einer widrigen Zeit. Durch den Umgang mit Verfolgern und Verfolgten, aber auch Kollaborateuren und Widerstandskämpfern wird aus dem verspielten Jojo des Anfangs ein verantwortungsvoller Junge, der nicht nur den eigenen Lebensunterhalt verdient, sondern auch so etwas wie die erste Liebe erfährt. Christian Duguays Film erzählt vor allem aber von der Bruder- und Elternliebe, die in jedem Augenblick zu spüren, sowie von einer vereinten Familie, wie sie im heutigen Kino kaum noch zu sehen ist. Dafür zählt der Regisseur auf großartige Schauspieler: Nicht nur Elsa Zylberstein und Patrick Bruel verkörpern auf authentische Weise liebevolle und liebenswerte, sowie um die Sicherheit der Familie besorgte Eltern. Auch die Kinderdarsteller Batyste Fleurial Palmieri und insbesondere der bei den Dreharbeiten erst 10-jährige Dorian Le Clech bleiben dem Zuschauer lebhaft in Erinnerung.
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