TRÄUM WAS SCHÖNES | Fai bei sogni
Filmische Qualität:   
Regie: Marco Bellocchio
Darsteller: Valerio Mastandrea, Bérènice Bejo, Nicolò Cabras, Dario Dal Pero, Barbara Ronchi, Emanuelle Devos, Fausto Russo Alesi
Land, Jahr: Italien 2016
Laufzeit: 134 Minuten
Genre:
Publikum: ab 16 Jahren
Einschränkungen: --
im Kino: 8/2017


José García
Foto: movienet/ Simone Martinetto

Turin, 1969. Der neunjährige Massimo (Nicolo Cabras) hat ein sehr inniges Verhältnis zu seiner Mutter (Barbara Ronchi). Zusammen tanzen sie Twist oder schauen sich Horrorfilme an, wobei sich die Mutter mehr ängstigt als der Neunjährige. Eine Fernsehserie hat es ihnen am meisten angetan: "Belphégor oder das Geheimnis des Louvre" (1965). Dieser "Geist des Louvre" mit dem unheimlich wirkenden Namen "Belphégor" wird insbesondere in der Kindheit Massimos, aber auch darüber hinaus eine wichtige Rolle spielen. Mutter und Sohn stehen sich sogar so nahe, dass der Zuschauer den Eindruck hat, sie sei eine alleinerziehende Mutter avant la lettre. Dies stimmt jedoch nicht. Denn irgendwann einmal taucht auch Massimos Vater (Guido Caprino) auf. Die enge Mutter-Sohn-Beziehung erfährt allerdings auch gewisse Irritationen, etwa wenn sie Versteck spielen, und die Mutter den Jungen viel zu lange bangen lässt. Bald wird auch deutlich: Diese junge Frau ist psychisch labil, ja sie leidet an Depressionen. Eines Nachts geht Massimo ins Bett, seine Mutter verabschiedet sich mit dem titelgebenden "Träum was Schönes" ("Fai bei sogni"). Als Massimo am nächsten Tag erwacht, ist die Mutter tot.

"Träum was Schönes" basiert auf dem 2012 erschienenen, gleichnamigen und autobiografischen Roman von Massimo Gramellini, den der italienische Altmeister Marco Bellocchio (Jahrgang 1939) mit seinen Mit-Drehbuchautoren Valia Santella und Edoardo Albinati für die große Leinwand adaptiert hat. Dazu erklärt Bellocchio: "Diese Geschichte hat mich schwer und tief getroffen, weil ich viele Motive gesehen habe, die ich oft in Filmen behandelt habe. Familie, Mütter, Väter, das Zuhause in verschiedenen Zeitabschnitten über die letzten 30 Jahre, eine Zeit des radikalen Wandels in Italien. Die Veränderungen in Italien spielen sich buchstäblich vor Massimos Haus ab." Marco Bellocchio und seine Mitautoren wählen eine komplexe Dramaturgie. Wenn sich die Wohnungstür 1969 schließt und gleich nach einem Filmschnitt wieder öffnet, sind dreißig Jahre vergangen. Im Jahre 1999 kommt der etwa vierzigjährige Massimo (nun von Valerio Mastandrea dargestellt) in die elterliche Wohnung, weil sie nach dem Tod des Vaters geräumt werden soll. Die "Jetzt-Zeit" des Filmes am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts gilt den Filmemachern jedoch nicht nur als Rahmenhandlung, in die Massimos Kindheit als Rückblende eingebaut wird. Mit mehr als fünfzig von 130 Minuten wäre diese Zeitebene ohnehin zu lang, um als Rückblende angesehen zu werden. Filmvergangenheit und Filmgegenwart spielen eine ähnlich wichtige Rolle in "Träum was Schönes". Aber Massimos Erinnerungen gelten nicht nur der unmittelbaren Zeit nach dem ihm unverständlichen Tod seiner Mutter Anfang der siebziger Jahre ? zur Orientierung blendet Marco Bellocchio Originalaufnahmen des damals ungemein populären Gesangswettbewerbs Canzonissima 1970 mit Raffaella Carra sowie der Olympischen Spiele München 1972 ein. Vor allem der Blick aus dem Wohnzimmerfenster auf das Fußballstadion des AC Turin weckt das Gedächtnis des erwachsenen Massimo an die Stadionbesuche mit seinem Vater.

Nach dem Tod der Mutter hatten Vater und Sohn offensichtlich lange Zeit lediglich nebeneinander gelebt. Erst als sie zusammen die Begeisterung der Zuschauer erleben, kommen sich Massimo und sein Vater näher. Diese Stadionbesuche spielen auch insofern eine Rolle, als der Junge dadurch seinen künftigen Beruf entdeckt. Doch zunächst führt eine Kamerafahrt vom neunjährigen zum Teenager-Massimo (Dario Dal Pero), der weiterhin so sportbegeistert bleibt, dass er später seine Journalistenlaufbahn als Sportreporter beginnt, ehe Massimo 1993 in Sarajevo als Kriegsberichterstatter arbeitet und dann ein bekannter Kolumnist bei einer großen Tageszeitung wird. Gerade als der Chefredakteur ihm die Aufgabe überträgt, auf einen Leserbrief zu antworten, in dem ein Mann mit seiner lieblosen Mutter abrechnet, beginnt Massimo, seine eigene Vergangenheit aufzuarbeiten.

Dass die Handlung des Filmes einen dreißigjährigen Bogen schlägt, stellt für den Zuschauer keine Schwierigkeit dar, sich in der jeweiligen Zeit zurechtzufinden. Denn "Träum was Schönes" dreht sich um ein traumatisierendes Erlebnis in Massimos Kindheit sowie um die Aufarbeitung von Trauer und Verlust, zu der die Ärztin Elisa (Bérénice Bejo) entscheidend beiträgt ? vielleicht auch, weil sie Massimos Mutter äußerlich ähnelt. Dass der Zuschauer viel früher als Massimo selbst ahnt, wie dessen Mutter starb, tut der Vergangenheitsbewältigung durch den erwachsenen Mann freilich keinen Abbruch.

Sowohl die komplexe Dramaturgie als auch die Schwere der darin angesprochenen Themen verleihen "Träum was Schönes" besondere Tiefe. Denn es geht dabei nicht nur darum, Trauer und Verlust, die Vergangenheit zu bewältigen. Dies ist die Voraussetzung, um ein erfülltes Leben in der Gegenwart zu führen. Erst Elisa ermöglicht Massimo, seine jahrzehntelang versteckten Gefühle wieder zu entdecken. Um all diese vielschichtigen Gefühle auszudrücken, kann Regisseur und Mit-Drehbuchautor Marco Bellocchio auf hervorragende Schauspieler zählen. Valerio Mastandrea gestaltet den erwachsenen Massimo als teilnahmslosen Mann, der zwar beruflich reüssiert, aber privat Panikattacken erleidet. Wird in ihm die Langeweile auf seinem Gesicht geradezu greifbar, so kontrastiert er mit dem kindlichen Massimo, den Nicolo Cabras mit einer hohen Dosis Trotzigkeit verkörpert, mit einer kaum versteckten Wut, die ihm eine ungeheure Energie verleiht.
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