MATHILDE | Mathilde
Filmische Qualität:   
Regie: Aleksei Utschitel
Darsteller: Lars Eidinger, Michalina Olzszanka, Luise Wolfram, Danila Kozlowskj, Sarah Stern, Grigory Dobrygin, Ingeborga Dapkunaite, Thomas Ostermeier
Land, Jahr: Russland 2017
Laufzeit: 110 Minuten
Genre:
Publikum: ab 16 Jahren
Einschränkungen: S, X
im Kino: 11/2017


José García
Foto: Kinostar

Der teuerste russische Spielfilm überhaupt, "Mathilde" (Budget: 15 Millionen Dollar), ist gleichzeitig wohl der umstrittenste. Der Grund: Die Darstellung des letzten Zaren Nikolaus II. als zaudernder Jüngling und vor allem seine voreheliche Liebesaffäre mit der Ballerina Mathilde Kshessinsksa beschmutze nach Ansicht russischer Monarchisten und orthodoxer Christen das Andenken des im Jahre 2000 heiliggesprochenen Zaren Nikolaus II. Die Abgeordnete des russischen Parlaments Natalja Poklonskaja bemühte sich sogar vergeblich um ein Verbot des Films. Es gab Aufrufe zum Boykott von "Mathilde" und Drohungen gegen Kinos, die ihn in ihr Programm aufnehmen wollten.

Wie so oft in Filmen der letzten Zeit, lassen Drehbuchautor Alexander Terekhov und Regisseur Aleksei Utschitel "Mathilde" mit einer Szene beginnen, die chronologisch ins letzte Filmdrittel gehört, die aber visuell und emotional besondere Kraft besitzt. In einer am Prunk kaum zu überbietenden Zeremonie soll der damals 25-jährige Nikolaus II. (Lars Eidinger) in der Mariä-Entschlafens-Kathedrale des Moskauer Kremls sich selbst und anschließend seine Ehefrau Alix von Hessen-Darmstadt (Luise Wolfram), die nach Heirat und Übertritt zum russisch-orthodoxen Glauben nun Alexandra Fjodorowna heißt, krönen. Plötzlich erscheint in der Kathedrale eine junge Frau: Mathilde (Michalina Olzszanka), die aus dem Hauptschiff der Kathedrale flieht, als sie einen Offizier erkennt. Verfolgt von ihm, flüchtet sie sich auf eine Galerie, von der sie dem bereits die Krone in der Hand haltenden Nikolaus zuruft: "Niki!" Nikolaus fällt in Ohnmacht, die Krone rollt über den Boden.

Nach einem scharfen Schnitt erzählt nun "Mathilde" von der Beziehung zwischen dem Thronfolger und der jungen Ballerina. Mathilde Kschessinska weckt das Interesse des jungen Zarensohns bei einer Aufführung, bei der sie halbentblößt weitertanzt, nachdem ihr eine eifersüchtige Kollegin einen Träger aufgeknotet hatte. Nach einem von Nikis Onkel, dem Großherzog Vladimir, veranstalteten Wettkampf lädt der Thronfolger Mathilde in sein Zelt ein. Die selbstbewusste junge Frau wirft sich aber nicht in Nikis Arme. Später wird er jedoch ihren anfänglichen Widerstand brechen. Aus einer flüchtigen Affäre entsteht eine stürmische Romanze, die bei Hof und insbesondere von Nikolaus´ Mutter Maria Feodorovna (Ingeborga Dapkunaite) nicht gerne gesehen wird.

Nach dem Tod des Zaren Alexander III. (Sergey Garmash) überstürzen sich die Ereignisse. Bei einem Zugunfall, der nach allen Regeln des Katastrophenfilms gedreht ist, rettet Zar Alexander III. zwar seine Familie. Die Überanstrengung führt aber dazu, dass er von diesem Augenblick an auf einen Rollstuhl angewiesen ist. Der Film zeigt seinen Abschied aus den Regierungsgeschäften mit einem symbolischen Bild: Er wird im Rollstuhl in die Dunkelheit geschoben. Bald darauf ist der Zar tot. "Niki" sträubt sich gegen den Thron, will wegen Mathilde gar auf ihn verzichten ("Ich werde alles tun, um Dich zu meiner Braut zu machen"), obwohl seine Verlobung mit Alix von Hessen-Darmstadt bereits besiegelt ist und die Vorbereitungen auf die Hochzeit auf Hochtouren laufen.

Dramaturgisch konzentriert sich "Mathilde" auf die Liebesbeziehung und auf die Zerrissenheit des jugendlichen Thronfolgers. Dazu kommen allerdings einige Handlungsstränge, so etwa Lieutenant Vorontsov (Danila Koslowski), der sich ebenfalls in die Ballerina verliebt hat, und dafür bereit ist, den Thronfolger zu töten. Vorontsov wird verhaftet und ins Labor von Hofarzt Doktor Fischel (Thomas Ostermeier) gebracht. Die Experimente, die Fischel an Vorontsov durchführt, werden überwacht von Polizeichef Vlasov (Vitaliy Kishchenko), der damit beauftragt wird, Mathilde von Nikolaus fernzuhalten. Dazu kommen etwa auch die Séancen, die Alix abhalten lässt. Solche Nebenstränge lenken aber kaum von der Haupthandlung ab.

"Mathilde" erweist sich auch als ein regelrechter "Kostümfilm". Die Ausstattung ist schlechthin spektakulär. Zu den echten Handlungsorten — den Zarenpalästen in Sankt Petersburg, dem Mariinsky- und dem Moskauer Bolschoi-Theater — wurden unter anderem die bereits erwähnte Mariä-Entschlafens-Kathedrale sowie der Katharinenpalast nachgebaut. Außerdem beeindrucken die Massenszenen mit tausenden Statisten, so etwa bei der Katastrophe auf dem Moskauer Chodynkafeld. Dorthin strömten hunderttausende Menschen, die auf die Vergabe von Geschenken und Verköstigungen anlässlich der Kaiserkrönung warteten. Nach Ausbruch einer Massenpanik fanden 1 389 Menschen den Tod. 1 300 wurden verletzt.

Schauspielerin Michalina Olzszanka gestaltet Mathilde als selbstbewusste junge Frau, die ihre Wirkung auf Männer auszunutzen weiß. Die Schauspielerin schafft es, den Zuschauer im Unklaren zu lassen, ob sie "Niki" wirklich liebt, oder ob sie die Zuneigung des jungen Thronfolgers für ihre Zwecke ausnutzt. Dass sie sich im Ballett-Ensemble gegen ihre Konkurrentin durchzusetzen weiß, spricht ebenfalls für ihr Selbstwertgefühl. Lars Eidinger gestaltet "Niki" als einen zaudernden jungen Mann, der sich seiner Verantwortung nur allmählich und nach tatkräftiger Intervention seiner Mutter zu stellen bereit ist. Darüber hinaus bleibt er lange unentschieden, ob er seinen Gefühlen folgen oder eine Vernunftehe eingehen soll. Dass sich Verehrer des letzten Zaren an einer solchen Darstellung stoßen, ist bei aller Leidenschaft und offensichtlichem Respekt des Hauptdarstellers zu seiner Figur durchaus verständlich.
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