JETZT. NICHT. | Jetzt. Nicht.
Filmische Qualität:   
Regie: Julia Keller
Darsteller: Godehard Giese, Loretta Pflaum, Ronald Kukulies, Tinka Fürst, Maximilian Strestik, Folker Banik, Philipp Sebastian
Land, Jahr: Deutschland 2017
Laufzeit: 88 Minuten
Genre:
Publikum: ab 16 Jahren
Einschränkungen: X
im Kino: 11/2017


José García
Foto: W-Film

Der drohende oder tatsächliche Verlust des Arbeitsplatzes steht seit geraumer Zeit im Mittelpunkt europäischer Spielfilme. Bereits als Klassiker des Genres kann Aki Kaurismäkis "Wolken ziehen vorüber" (1996) bezeichnet werden, in dem ein Ehepaar zur gleichen Zeit die Arbeit verliert. Der Mann gibt schnell auf, eine neue Arbeit zu finden, aber die Frau schafft es, sich selbstständig zu machen. In "Zwei Tage, eine Nacht" erzählen die Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne von einer jungen Frau, die ein Wochenende Zeit hat, ihre Kollegen zum Verzicht auf eine Bonuszahlung zu bewegen, damit ihr Arbeitsplatz erhalten bleibt. In deutschen Filmen nimmt das Sujet eher einen tragikomischen Charakter, so zuletzt in Sebastian Sterns "Der Hund begraben". "Mir persönlich gefällt es, wenn Humor an der Grenze zum Tragischen wandert, man darüber lachen kann, das Lachen aber immer auch ein bisschen weh tut", erklärte etwa Stern zu seinem Film.

Diese Worte gelten im Großen und Ganzen ebenfalls für den nun im regulären Kinoprogramm anlaufenden "Jetzt. Nicht.", das Spielfilmdebüt von Julia Keller. Im Mittelpunkt steht der Mittvierziger Walter Stein (Godehard Giese), der in der Marketingabteilung eines Kosmetikherstellers arbeitet. Bereits in der ersten Szene des Filmes scheint Walter mit seinen Kollegen auf Konfrontationskurs zu stehen. Feierabend kennt er offensichtlich nicht, denn zu Hause arbeitet er weiter, kaum dass er seine Frau Nicola (Loretta Pflaum) begrüßt hat. Nach der kurzen Exposition bringen Julia Keller und ihr Drehbuch-Mitautor Janis Mazuch die Handlung ins Rollen: Walter Stein wird gekündigt. Im Gegensatz jedoch zu dem von Justus von Dohnányi dargestellten Hans Waldmann in "Der Hund begraben", erzählt er bald seiner Frau Nicola davon, die ja selbst an ihrer Karriere bastelt.

Zwar versucht zunächst Walter über einen "Freund", sich nach neuen Arbeitsmöglichkeiten umzuschauen, muss aber von diesem den lapidaren Satz hören: "Für den Heiratsmarkt bist Du interessant, so lange Du nicht geschieden bist." Bis dahin folgt "Jetzt. Nicht." den Regeln des Subgenres. Nun geben die Drehbuchautoren dem Film jedoch eine neue Wendung: Nach einem Streit mit seiner Frau macht sich Walter mit dem Geschäftswagen einfach davon. Er versenkt den Wagen in einen See, wirft auch das Handy weg. An einer Tankstelle spricht er einen Geschäftsmann an, der ihn in seinem Auto mitnimmt: Anton Schneider (Ronald Kukulies) befindet sich auf dem Weg zu einem Vorstellungsgespräch. Während der langen Fahrt stirbt Anton an plötzlichem Herzversagen. Walter entscheidet, Antons Identität einfach anzunehmen, sich einen freien Tag im bereits gebuchten Hotel zu nehmen und dann an Antons Stelle zum Vorstellungsgespräch zu fahren. Der Identitätswechsel erlaubt Walter, eine Zeit lang sein altes Leben und damit auch sein Scheitern in seinem bisherigen Beruf hinter sich zurückzulassen. Aber wie lange kann das gutgehen, bis er merkt, dass er in die alten Lebensmuster fällt, in die gewohnheitsmäßige Gleichsetzung von Arbeit und Leben in einer Leistungsgesellschaft, die lediglich auf Erfolg setzt? Die Inszenierung von Julia Keller zeichnet sich durch eine wohltuende Beiläufigkeit aus. Die Bilder sprechen für sich selbst, ohne in eine Dialog- und Thesenlastigkeit zu verfallen, die sich in den meisten deutschen Kinofilmen breitmacht. Kameramann (und Mit-Autor) Janis Mazuch taucht die Bilder von Anfang an in kalte Farben. Bereits die ultramoderne Stahl-Glas-Architektur des Bürohauses, in dem Walter am Anfang arbeitet, gibt eine aseptische Anmutung vor, die in die tristen Farbtöne einer ungemütlichen Jahreszeit übergeht. Ungemütlich und unbehaust nimmt sich das Leben des Arbeitslosen wider Willen aus. So irrt er einige Tage einfach umher, in denen der ehemalige Marketingexperte skurrile bis surreale Bekanntschaften macht, in denen er aber auch ganz neue Erfahrungen sammelt, die in seinem bisher geordneten und von Arbeit ausgefüllten Leben nicht vorkamen.

Walter solle die Kündigung als Chance begreifen, hatte ihm seine Frau Nicola zu Beginn gesagt. Er scheint dies in weitaus größerem Maße beherzigt zu haben, um sich existenzielle Fragen zu stellen. Dazu führt Regisseurin Julia Keller aus: "Wie bin ich ins Leben gestartet? Was habe ich bis JETZT gemacht? Warum habe ich so vieles NICHT gemacht? Wo stehe ich JETZT und was ist mit meinen Träumen passiert? Aber ist der Traum vom anderen Leben nur so lange schön, so lange er nicht gelebt wird? Wenn aber JETZT. NICHT., wann dann? Und ist es nicht ein utopischer Gedanke, in einer kapitalistischen Gesellschaft ohne Arbeit glücklich zu werden? JETZT vielleicht noch. Aber was wird passieren, wenn die Prophezeiungen, die mit der Digitalen Revolution einhergehen, eintreffen und ein Großteil der Arbeit verschwinden wird? Wie werden wir in Zukunft unsere Zeit nutzen?"

Diese Fragestellungen spiegeln sich in Godehard Gieses Gesicht regelrecht ab. Dazu gehören auch manchmal etwas Wut sowie eine Portion unterschwelligen Humors, der eine gewisse Hoffnung aufblitzen lässt, und der das Sozialdrama abfedert. In den Tagen des Umherirrens stellt sich Walter ganz neue Fragen: Will er das alte Leben einfach wieder aufnehmen, als sei das lediglich ein Intermezzo gewesen, oder soll er neue Prioritäten setzen? Auch wenn "Jetzt. Nicht." von einer nicht gerade originellen Situation ausgeht, überzeugt die Art und Weise, auf die Julia Keller den Zuschauer zum Nachdenken anregt.
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