LEBENDEN REPARIEREN, DIE | Réparer les vivants
Filmische Qualität:   
Regie: Kattell Quillévéré
Darsteller: Tahar Rahim, Emmanuelle Seigner, Anne Dorval, Bouli Lanners, Kool Shen, Monia Chokri, Alice Taglioni, Gabin Verdet
Land, Jahr: Frankreich, Belgien 2016
Laufzeit: 103 Minuten
Genre:
Publikum: ab 16 Jahren
Einschränkungen: S
im Kino: 12/2017


José García
Foto: Wild Bunch

In ihrem zweiten Spielfilm "Die unerschütterliche Liebe der Suzanne") stellte die französische Regisseurin Katell Quillévéré eine junge Frau in den Mittelpunkt, die große Verluste erleidet: Erst stirbt ihre Mutter, dann ihre Schwester. Quillévéré inszenierte die sehr emotionale Geschichte ohne Gefühlsduselei, vielmehr mit realistischer Authentizität. Diese Merkmale kennzeichnen trotz der ganz verschiedenen Handlung ebenfalls ihre dritte Regiearbeit "Die Lebenden reparieren" ("Réparer les vivants"), die nach der Uraufführung bei den 73. Filmfestspielen von Venedig nun im regulären Kinoprogramm anläuft.

"Die Lebenden reparieren" beginnt mit einem Surfausflug dreier Freunde im Morgengrauen. Auf dem Heimweg schläft Simon (Gabin Verdet) am Steuer ein. Seine beiden Freunde überleben, aber für Simon kommt jede Hilfe zu spät. Als die Eltern in der Hafenstadt Le Havre im Krankenhaus ankommen, werden sie damit konfrontiert, dass die Ärzte nur noch den Hirntod feststellen können. Der Stationsarzt Pierre Revol (Bouli Lanners) teilt Simons Mutter Marianne (Emmanuelle Seigner) den Hirntod ihres Sohnes mit. Sie weigert sich, den Tod ihres Sohnes zu akzeptieren. Inzwischen hat sie den von ihr getrennt lebenden Vater Simons Vincent (Kool Shen) erreicht. Nun liegt es am Assistenzarzt (Tahar Rahim), Simons Eltern eine Frage zu stellen, die von ihnen eine schwierige Entscheidung abverlangt. Obwohl er sich um eine besonders taktvolle Sprache bemüht, reagieren Simons Eltern entsetzt, als der Arzt sie bittet, Simons Körper zur Organspende freizugeben. Dennoch: Am Ende geben sie ihre Zustimmung. Ab dem Moment, da die Geräte abgeschaltet werden, an die Simon angeschlossen ist, muss es ganz schnell gehen.

Basierend auf dem gleichnamigen, vielfach ausgezeichneten Roman von Maylis de Kerangal (2015) entwerfen Katell Quillévéré und ihr Mit-Autor Gilles Taurand ein tiefgründiges und präzis umgesetztes Drehbuch, das 24 entscheidende Stunden im Leben zweier Familien auf gut 100 Minuten Film verdichten. Denn nun kommt sozusagen die andere Seite in den Fokus von "Die Lebenden reparieren": In Paris leidet die etwa 50-jährige Musikerin Claire (Anne Dorval) an einer degenerativen Herzkrankheit. Ihre letzte Hoffnung: eine Herztransplantation. Der Film zeigt mit einigen Pinselstrichen ihre Lebensumstände, etwa wie sich ihre beiden erwachsenen Söhne um sie kümmern, wie sie selbst sich um eine Klärung ihres Verhältnisses zu ihrer ehemaligen Partnerin Anne (Alice Taglioni) bemüht. Was die Regisseurin mit der lesbischen Beziehung einer zweifachen Mutter ausdrücken möchte, wird allerdings nicht klar. Jedenfalls spielt dies für die eigentliche Handlung keine Rolle.

Obwohl der Film die gesamte Prozedur samt Herzentnahme und -einpflanzung mit dokumentarischer Sachlichkeit zeigt, haftet diesen Bildern etwas Berührendes, ja Poetisches an. Dazu erklärt Katell Quillévéré selbst: "Ich glaube, der Mensch spürt instinktiv, dass es sich um eine Art Grenzüberschreitung handelt, wenn man unter die Haut schaut, die ja eine natürliche Grenze bildet und unsere Identität bewahrt. Chirurgen verletzen diese Grenze im OP-Saal immer wieder, während sie versuchen, Leben zu retten. Wie jedoch schaffe ich es als Filmemacherin, dass der Zuschauer es akzeptiert, potenziell verstörende und schockierende anatomische Bilder auf der Leinwand zu sehen? Es handelt sich um eine faszinierende Herausforderung, die darin besteht, Bilder zu finden, die veranschaulichen, dass in Momenten wie diesen, wenn es um Leben und Tod geht, Triviales und Sakrales miteinander verschmelzen." Quillévérés Film ist jedoch keine Dokumentation über die Möglichkeiten heutiger Transplantationsmedizin. Es geht vielmehr um die Reise eines Herzens, dass ein Mensch "mit dem Herzen eines Toten" zu leben lernt. Dazu führt die Drehbuchautorin und Regisseurin aus: "Ein Herz, das von einem Menschen zum anderen übergeht, eröffnet — ganz abgesehen von der dramatischen Kraft, die einem solchen Umstand innewohnt — wissenschaftliche, poetische und metaphysische Perspektiven.

Und es sind diese widersprüchlichen Elemente, die mich faszinieren. Auf der einen Seite haben wir die moderne, ständig sich weiterentwickelnde Biomedizin und wie sie den menschlichen Körper nutzt, auf der anderen ewige Menschheitsfragen: Wann endet das Leben? Was ist der Tod? Das Sein, die Symbolik unserer Körperteile?"

Mit einer meistens beobachtenden Kamera (Tom Harari) und einem Schnitt (Thomas Marchand), der den fieberhaften Lauf gegen die Zeit mit eher gemessenen bis kontemplativen Stellen ins Gleichgewicht bringt, gelingt es Katell Quillévéré, auch die Schicksale der zwei Familien miteinander zu verbinden. Dafür kann sie auf das großartige Spiel der Hauptdarstellerinnen Emmanuelle Seigner und Anne Dorval zählen. Aber auch Nebenrollen, etwa der zwei Ärzte, sind hervorragend besetzt. Der belgische Charakterdarsteller Bouli Lanners, der zuletzt als Regisseur und Hauptdarsteller in "Das Ende ist erst der Anfang" brillierte, verkörpert den Chefarzt, der für eine klare Sprache eintritt. Tahar Rahim, der in Jacques Audiards "Ein Prophet" bekannt wurde, sorgt für einen besonders bewegenden Moment, als er vor der Entnahme Simon Kopfhörer aufsetzt, wie er dessen Eltern versprochen hatte.

Mit "Die Lebenden reparieren" gelingt Katell Quillévéré, einer an sich schwierigen Geschichte trotz der ihr innewohnenden Melancholie einen Funken Hoffnung einzuflößen.
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