|
||||||||||||||||
JOSà GARCÃA Foto: strandfilm âEuropas Mitte liegt im Westerwaldâ, lautete die Ãberschrift einer Meldung, die Ende April durch die Tagespresse ging. Das Nationale Geografische Institut Frankreichs IGN habe penibel genau errechnet, dass der Mittelpunkt der ab dem 1. Mai vergröÃerten Europäischen Union im rheinland-pfälzischen Westerwaldort Kleinmaischeid (Kreis Neuwied) liege. Weil dem Autor dieser Meldung die fundamentale Verwechslung zwischen âEuropäischer Unionâ und âEuropaâ doch noch klar wurde, schloss er mit dem lapidaren Satz: âDie Mitte des Kontinents zwischen Atlantik und Ural liegt nahe der litauischen Hauptstadt Vilnius.â So einfach gestaltet sich die Suche nach dem Mittelpunkt Europas nun wieder nicht, erheben doch mehr als ein Dutzend Orte den zumeist mit dem entsprechenden Denkmal ausgestatteten Anspruch, âdie Mitte Europasâ zu sein. Sie liegen nicht nur in Deutschland, sondern auch in Ãsterreich, in Polen, der Ukraine, der Slowakei und in Litauen. Diese Orte hat nun der in Deutschland arbeitende, aus Polen gebürtige Regisseur Stanislaw Mucha aufgesucht. Als Ergebnis seiner Reise legt Mucha den Dokumentarfilm âDie Mitteâ vor, der auf der diesjährigen Berlinale groÃe Beachtung fand und nun im deutschen Kino anläuft. Auf seiner Odyssee durch den halben Kontinent reist Mucha mit seinem Team zum Gasthof âMittelpunkt Europasâ im österreichischen Brunau am Inn, wo Japaner das Geburtshaus Hitlers fotografieren und wo einst Napoleon die Mitte Europas fand. Im slowakischen Krahule erzählt ein junger Mönch von der Hilfe eines Engels bei der Suche nach der Mitte. Nun liege sie genau unter dem Kirchturm. In Polen gibt es gleich mehrere Punkte, die denselben Anspruch erheben. Die besten Chancen besitzen jedoch zwei Gemeinden, die mehr als 1000 Kilometer voneinander entfernt liegen: die ukrainische Kleinstadt Rachiv, wo im Jahre 1887 das k. und k. Militärgeografische Institut Wien die Mitte Europas ausmachte, sowie das liatuische Dörfchen Purnukes an der StraÃe von Vilnius nach Moletai, wo nun die Inschrift âEuropo Centrasâ zu lesen ist. Stanislaw Mucha geht es allerdings nicht vorwiegend um die Klärung einer topografischen Frage. Vielmehr interessiert ihn die Bedeutung der vermeintlichen Mitte Europas für das Leben der Menschen. So fängt Regisseur Mucha mit seiner Kamera die Lebensbedingungen dieser Menschen ein, wobei zwei politische Fragen im Vordergrund stehen: der Zusammenbruch des sowjetischen Reichs und die EU-Erweiterung mit den damit verbundenen Ãngsten und Erwartungen. Bei Vilnius trauert etwa eine Familie dem Untergang der Sowejtunion nach. Doch die Hinterlassenschaften des untergegangenen Systems sind nur allzu offenkundig: Ein Nachbar dieser Familie berichtet von den Verwandten, die sich aus lauter Perspektivlosigkeit das Leben nahmen. Etwas weiter entdeckt Mucha und sein Team âFernseher für Europaâ, Labyrinth und Installation zugleich. Anhand tausender kaputter TV-Geräte wird die marode sowjetische Wirtschaft greifbar. Dieser Desillusionierung begegnet der Zuschauer ebenfalls Tausend Kilometer südlich von Vilnius, in einem anderen ehemaligen Teil der Sowejtunion: Im westukrainischen Rachiv trifft Regisseur Mucha auf Jugendliche aus Tchernobyl, für die der Segen der westlichen Welt lediglich aus Disco, Alkohol und Drogen zu bestehen scheint. In Rachiv steht auch der Kiosk âStraÃe des Friedensâ, die von einer echten Mitteleuropäerin geführt wird: Die betagte Raja wurde in Ãsterreich geboren, ging in der Tschechoslowakei zur Schule, gebar in Ungarn einen Sohn, arbeitete in der Sowjetunion als Näherin und verbringt nun ihr Lebensabend in der Ukraine. âNie rausgekommen aus der Mitte Europasâ, sagt sie. Entsprechend lebt sie nicht nach Kiewer, sondern nach mitteleuropäischer Zeit. Trotz einiger Längen und Redundanzen erweitert âDie Mitteâ mit weitgehend humorvollem Blick den Horizont des Westeuropäers, der jahrzehntelang âEuropaâ sagte und dabei lediglich einen kleinen Ausschnitt des Kontinentes meinte: die âEuropäische Unionâ. Für alle, die bisher Englisch als die internationale Sprache vermuteten, hält âDie Mitteâ auch eine kleine Ãberraschung bereit: in der Mitte Europas verständigt man sich am besten auf Polnisch. Ob in der Slowakei oder in der Ukraine: der Regisseur spricht polnisch; ihr Gegenüber antwortet auf slowakisch oder ukrainisch â und sie verstehen sich ohne weiteres. Auch in Litauen scheint Polnisch die meistgesprochene Fremdsprache zu sein. Nach diesem Dokumentarfilm wird der westeuropäische Zuschauer die Mitte Europas jedenfalls östlicher als bisher verorten müssen. Und wahrscheinlich versteht er auch das Diktum Johannes Pauls II. besser, Europa müsse wieder mit zwei Lungen atmen. |
||||||||||||||||
|