SIEBEN SEITEN DER WAHRHEIT | Seven Types of Ambiguity
Filmische Qualität:   
Regie: Glendyn Ivin, Matthew Saville, Ana Kokkinos
Darsteller: Xavier Samuel, Susie Porter, Alex Dimitriades, Leeanna Walsman, Hugo Weaving, Anthony Hayes, Andrea Demetriades, Harrison Molloy, Sarah Peirse, Andrew McFarlane
Land, Jahr: Australien 2017
Laufzeit: 320 Minuten
Genre:
Publikum: ab 12 Jahren
Einschränkungen: S
im Kino: 6/2019


José Garcia
Foto: Arte

Im Spielfilm "Rashomon" (1950) erzählt der japanische Meisterregisseur Akira Kurosawa dasselbe Geschehen aus vier verschiedenen Blickwinkeln, womit ein "unzuverlässiges Erzählen" thematisiert, beziehungsweise die Existenz einer objektiven Wahrheit in Frage gestellt wird. Die sechsteilige australische Serie "Sieben Seiten der Wahrheit", die am 4. und 11. Juli auf ARTE ausgestrahlt wird, setzt ein ähnliches Stilmittel ein, das sowohl im Original- ("Seven Types of Ambiguity") als auch im deutschen Serientitel zum Ausdruck kommt.

Der Börsenmakler Joe Marin (Alex Dimitriades) soll ein paar Tage mit seinem siebenjährigen Sohn Sam (Harrison Molloy) allein verbringen, denn seine Frau Anna (Leeanna Walsman) fährt auf Geschäftsreise. Deshalb will Joe den Jungen nachmittags von der Schule abholen. Eigentlich sollten die Schüler von einem Zoobesuch um 15.15 Uhr zurück sein. Aber nun heißt es, sie kämen erst eine Stunde später zurück - so wenigstens laut einem Anruf bei Joes Sekretärin. Als Joe deshalb um 16.15 Uhr in der Schule ankommt, ist Sam nirgends zu finden. Nach mehreren erfolglosen Anrufen bei Familien von Klassenkameraden bricht Joe in Panik aus - er ruft Anna an, die noch auf dem Weg zu ihrer Geschäftsreise war und schnellstens zurückkehrt. Schließlich melden sie Sam als Vermissten bei der Polizei. Der einzige Anhaltspunkt: Sam soll mit einem Mann weggegangen sein. Erst am frühen Abend taucht der Siebenjährige völlig unbeschadet wieder auf. Es stellt sich heraus, dass er diese Stunden im Hause von Simon Heywood (Xavier Samuel), einem ehemaligen Freund Annas, verbracht hat. Als die Polizei bei Simon vorstellig wurde, befand sich in der Wohnung außerdem eine Nachbarin Simons, Angela (Andrea Demetriades), die laut Aussage bei der Polizei weder Joe noch Anna "noch nie gesehen" haben. Simon bleibt in Untersuchungshaft, Angela kommt frei.

"Sieben Seiten der Wahrheit" beleuchtet die Entführung - oder was auch immer es gewesen ist - basierend auf dem gleichnamigen, 2003 erschienenen Roman des Schriftstellers Elliot Perlman aus verschiedenen Perspektiven. Deshalb tragen die sechs Folgen der Serie einen Eigennamen je nachdem, aus welcher Sicht erzählt wird. Die erste "Joe" stellt den Börsenmakler in den Mittelpunkt, der sich zusammen mit seinem Kollegen Mitch (Anthony Hayes) um die Unterstützung des einflussreichen Investors Don Sheere (Andrew McFarlane ) für einen riskanten Deal bemüht. Die zweite Folge führt eine Figur ein, die zwar im ersten Kapitel keine, ab jetzt aber eine entscheidende Rolle spielen wird: den Psychiater Alex Klima. Nicht nur weil der bekannte Schauspieler Hugo Weaving ihn mit einer mysteriösen Aura umgibt, stellt sich Alex Klima als die heimliche Hauptfigur in der Serie heraus. Denn er ist der Therapeut des verdächtigen Simon Heywood. Obwohl der sich aus den mysteriösen Umständen der Entführung keinen Reim machen kann, macht er sich daran, die wahren Beweggründe hinter der Tat zu ergründen, und gemeinsam mit der befreundeten Anwältin Gina Serkin (Susie Porter) Simon beim Prozess zu unterstützen.

Im Laufe der Serie kommen die Standpunkte der anderen Beteiligten zum Tragen: Angela, Mitch, Gina und zuletzt Anna fügen weitere Mosaiksteinchen zur Erklärung hinzu. Nur eine der im Filmtitel angesprochenen Seiten fehlt überraschenderweise: die des Täters Simon ? auch wenn sie in der letzten Folge teilweise wiedergegeben wird.

Gewiss, die sechs - oder sieben - verschiedenen Standpunkte verdeutlichen das "unzuverlässige Erzählen", ein komplexes Verhältnis zwischen Subjektivität und Objektivität, zwischen Wahrheit auf der einen sowie Ambiguität, Betrug und Selbstbetrug auf der anderen Seite. Sie veranschaulichen jedoch auch, dass die unterschiedlichen Sichtweisen zu einem besseren Verständnis einer Verhaltensweise ? so etwa wenn ein bestimmtes, bereits gesehenes Ereignis aus einer anderen Perspektive wiederholt wird ?, zur Herstellung von Objektivität beitragen können. Um Objektivität bemühen sich ebenfalls die drei Regisseure Glendyn Ivin, Matthew Saville, Ana Kokkinos, die stets zu den verschiedenen Figuren Abstand halten, so dass sich der Zuschauer eigentlich mit kaum einer von ihnen identifizieren kann. Wenn überhaupt, dann mit dem Psychiater Alex Klima oder mit der Anwältin Gina Serkin, die ja ebenfalls auf die Ereignisse von außen blicken.

"Sieben Seiten der Wahrheit" bietet einen interessanten Einblick in die conditio humana - nicht nur in Bezug auf die Subjektivität, sondern auch auf zwischenmenschliche Beziehungen.

"Sieben Seiten der Wahrheit", sechsteilige Fernsehserie, Regie: Glendyn Ivin, Matthew Saville, Ana Kokkinos, Australien 2017, 520 Minuten, Donnerstag, 4. Juli (Folgen 1-3), Donnerstag, 11. Juli (Folgen 4-6), jeweils ab 21.00 Uhr, auf ARTE
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