VERA DRAKE. FRAU UND MUTTER | Vera Drake
Filmische Qualität:   
Regie: Mike Leigh
Darsteller: Imelda Staunton, Phil Davis, Daniel Mays, Alex Kelly, Peter Wight, Eddie Marsan, Ruth Sheen
Land, Jahr: Großbritannien / Frankreich 2003
Laufzeit: 124 Minuten
Genre: Dramen
Publikum: Erwachsene
Einschränkungen: U, X -


JOSÉ GARCÍA
Foto: Concorde

„Vera Drake“ lautet der schlichte Titel des neuen Spielfilmes des britischen Regisseurs Mike Leigh, der beim Filmfestival Venedig 2004 den „Goldenen Löwen“ als bester Film sowie den Preis für die beste Hauptdarstellerin gewann.

Wie der Titel verheißt, liefert der Spielfilm ein eindringliches Frauenporträt: Vera Drake (Imelda Staunton, die für diese Rolle auch für den Oscar nominiert wurde) wird als Inbegriff der Hilfsbereitschaft gezeigt. Sie versorgt im London der frühen fünfziger Jahre nicht nur hingebungsvoll ihren Mann Stan (Phil Davis) und ihre zwei Kinder Sid (Daniel Mays) und Ethel (Alex Kelly), sondern auch noch ihre kranke Mutter. Nebenbei arbeitet sie als Putzfrau, kniet auf den Fußböden der „besseren Gesellschaft“. Vera findet darüber hinaus noch Zeit, sich etwa um den einsamen Junggesellen Reg (Eddie Marsan) zu kümmern, den sie als Ehemann für ihre schüchterne Tochter Ethel auserkoren hat.

Die gelungene Inszenierung der klaustrophobischen Wohnung durch ausgeklügelte Einstellungen und monochrome Farben des Kameramanns Dick Pope lässt das in gedeckten Grün-, Grau- und Brauntönen wiedergegebene Arbeitermilieu nicht nur mit den hellen Tönen und den weiten Räumen der „eleganten Welt“ kontrastieren, die in Parallelmontagen eingeführt wird. Darüber hinaus setzt der Film einen Kontrapunkt zu Vera in der Figur ihrer kinderlosen Schwägerin Joyce, die aus der Enge des proletarischen Umfelds ausbrechen möchte. Im Gegensatz zu ihr erscheint Vera somit als eine in ihrer Anspruchslosigkeit glückliche Frau. Sympathischer könnte die Figur der Vera Drake kaum gezeichnet werden.

Diese herzensgute Familienmutter hütet allerdings ein Geheimnis: Vera hilft jungen Frauen abtreiben. Seit vielen Jahren – sie kann sich nicht mehr entsinnen, wann sie damit angefangen hat – geht sie zu verzweifelten Mädchen, die ungewollt schwanger wurden, um mittels Einlauf die Abtreibung einzuleiten. Manchmal sind ihre „Patientinnen” auch gestandene Frauen, die bereits sieben Kinder haben und kein achtes mehr ernähren können. Dafür nimmt Vera natürlich kein Geld – sich bereichern tun andere, etwa ihre dubiose Bekannte Lily, die ihr die Adressen liefert, und die sich diese Dienste gut bezahlen lässt. Vera indessen handelt nach dem Motto „Ich helfe Frauen, die in Not sind“ aus reinster Gutmütigkeit.

Veras Geheimnis kommt jedoch ans Tageslicht, als nach ihrem Eingriff eine junge Frau in lebensbedrohlichem Zustand ins Krankenhaus eingeliefert wird. So kommt die Polizei auf Veras Spur. Für sie und ihre ahnungslose Familie stürzt eine Welt zusammen.

Warum die Handlung in den fünfziger Jahren angesiedelt ist, wird spätestens jetzt deutlich: In dieser Zeit sind Abtreibungen nicht nur illegal, sondern ziehen auch strafrechtliche Konsequenzen nach sich. Wenn jedoch der Regisseur behauptet: „Indem ich die Geschichte in das Jahr 1950 verlegt habe, war es einfacher, das moralische Dilemma zu zeigen, ohne in weltanschauliche Propaganda zu verfallen. Denn ich sehe es eher als meine Aufgabe, Fragen zu stellen, und nicht etwa, künstliche Lösungen anzubieten“, so mag das verblüffen.

Denn allen Beteuerungen des Regisseurs zum Trotz: In seinem Film wird sehr wohl eine „Lösung“ angeboten. In einer Nebenhandlung erzählt „Vera Drake“ von der Vorgehensweise der reichen Bürgerstöchter, die ungewollt schwanger wurden: Susan, ein etwa 18jähriges Mädchen aus einer dieser reichen Familien, bei denen Vera putzt, wird von einem Bekannten vergewaltigt und ungewollt schwanger. Ohne Wissen ihrer Eltern wendet sie sich an eine Freundin, die sie in die Vorgehensweise der Oberklasse in solchen Fällen einweiht: Ein Besuch beim Psychiater, der unterschreibt, dass Susan wegen ihres psychischen Zustands in Gefahr ist, ein Wochenende in einer teuren Klinik, bei dem eine die Abtreibung unter ärztlicher Aufsicht erfolgt.

Somit nimmt der Film eindeutig Partei. Nur vordergründig erzählt „Vera Drake“ von einer Frau, die in „gutem Glauben“ handelt und dadurch in Konflikt mit dem Gesetz gerät. Die Botschaft des Filmes lässt sich auf das altbekannte, primitive Argument zurückführen, ein Abtreibungsverbot führe nur zu illegalen Abtreibungen, die unter großen Risiken von Kurpfuschern wie Vera Drake vorgenommen werden. Deshalb müsse die Abtreibung unter ärztlicher Aufsicht erlaubt werden. Merkwürdig, dass im zweistündigen, gut gespielten und hervorragend inszenierten Film der Begriff „Baby“ im Zusammenhang mit der Abtreibung lediglich ein einziges Mal zu hören ist, als Veras Sohn Sid entsetzt ausruft: „Das ist falsch; das sind kleine Babys!“ Selbst darauf hat der Regisseur in der Person von Veras Mann eine Antwort: „Für Sid gibt es nur schwarz oder weiß, er ist noch jung.“ Dass Vera Drake aus lauter Menschenfreundlichkeit ungeborene Menschen getötet hat, wird durch die Sprachregelung vertuscht.
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