CITY OF GOD | Cidade de Deus
Filmische Qualität:   
Regie: Fernando Meirelles & Katia Lund
Darsteller: Alexandre Rodrigues, Leandro Firmino da Hora, Phelipe Haagensen, Jonathan Haagensen, Douglas Silva, Roberta Rodriguez Silvia
Land, Jahr: Brasilien 2002
Laufzeit: 130 Minuten
Genre: Dramen
Publikum: Erwachsene
Einschränkungen: G +++, D, X


JOSÉ GARCÍA


Wer glaubte, die in Martin Scorseses „Gangs of New York“ ausgebreitete hyperrealistische Gewalt wäre auf der Kinoleinwand kaum zu überbieten, wird bei „City of God“ eines Besseren belehrt. Das Spielfilmdebüt des brasilianischen Regisseurs Fernando Meirelles zeigt zwar viel weniger Blut, als Scorseses Film, bietet jedoch eine selten gesehene Grausamkeit gerade deshalb, weil im Mittelpunkt seiner brutalen Gewalt Jugendliche und zunehmend Kinder stehen.

„City of God“, der den gleichnamigen, auf wahren Tatsachen basierenden Roman von Paulo Lins über Jugendkriminalität in der brasilianischen Barackensiedlung „Cidade de Deus“ adaptiert, zeigt in ihrer Schaurigkeit noch nie gesehene Filmszenen. So wird etwa ein allenfalls sechsjähriger Junge von einem Bandenchef vor die Wahl gestellt, ob er lieber in die Hand oder in den Fuß geschossen werden will. Derselbe Bandenboss lässt einen weiteren kleinen Jungen auswählen, welchen von seinen zwei Freunden er mit der Pistole erledigen möchte – will er nicht selbst erschossen werden.

Meirelles und seine Co-Regisseurin Kátia Lund – die bereits bei Walter Salles’ „Central Station“ (1998) die Regieassistenz übernahm – erzählen zumeist in Rückblenden drei miteinander verknüpften Geschichten aus drei unterschiedlichen Jahrzehnten. Als Bindeglied und teilweise Off-Erzähler, der den Zuschauer durch den Mikrokosmos der Favela führt, fungiert Buscapé, der Junge, der unbedingt Fotograf werden und so aus diesem von rücksichtlosester Gewalt geprägten Vorstadt-Dschungel flüchten möchte.

Den Kontrapunkt zu Buscapé bildet „Zé Pequeño“, auch „Locke“ genannt, dessen Gangsterkarriere der Film bis zu ihren Ursprüngen in den sechziger Jahren zurückverfolgt, als der erst zehnjährige „Locke“ einen Raubüberfall auf ein Bordell aus purer Mordlust in ein Blutbad verwandelte. Ein Amoklauf, der das Leben in der Siedlung für immer veränderte.

In seinem zweiten, in den siebziger Jahren angesiedelten Handlungsabschnitt zeigt „City of God“ den vom Rauschgifthandel beförderten Aufstieg der von „Locke“ und dessen bestem Freund Bené angeführten Gang zur die Favela beherrschenden Bande. Der Film kulminiert schließlich in dem Kapitel, das zu Beginn der achtziger Jahre spielt und den Drogenkrieg schildert, den kaum einer der Hauptfiguren überleben wird.
Diese drei Abschnitte – oder besser: Handlungsstränge, denn sie folgen nicht chronologisch aufeinander, sondern kreuzen sich immer wieder – werden mit formalen Mitteln klar voneinander unterschieden: Die sechziger Jahre sind von einer bernsteinfarbenen Aura durchtränkt, während die Kamera ruhig und der Schnitt klassisch bleibt. Im mittleren Jahrzehnt dominieren die mit dem Drogenrausch korrespondierenden psychedelischen Farben sowie eine bewegte Handkamera, während im letzten Teil die Farbigkeit deutlich abnimmt, die Kamera nervöser wird und sich die Schnittfolge nach dem Vorbild der Videoclip-Ästhetik deutlich beschleunigt.

Filmisch stellt „City of God“ einen wahren Meilenstein in der Darstellung von Gewalt, vielleicht sogar in der Filmgeschichte dar. Fernando Meirelles ahmt nicht bloß seine Vorbilder nach, er hat sich ihre Filmkunst angeeignet und dann einen Schritt weiterentwickelt: Erinnert etwa die Charakter- und Milieudarstellung an Martin Scorsese und besonders an dessen Gangsterepos „Godfellas – drei Jahrzehnte in der Mafia“ (1990), so lehnt sich der brasilianische Regisseur stilistisch an Quentin Tarantinos an: Von Tarantinos bekanntestem Gangsterfilm „Pulp Fiction“ (1994) rezipiert Meirelles nicht nur die Banalisierung der Gewalt, sondern auch wichtige Stilmittel wie die Kapitelunterteilung mittels Zwischentiteln, die Wiederholung von Szenen aus unterschiedlicher Perspektive oder auch die Kombination verschiedener Kamera- und Schnitttempi. Auch die Unterbrechung der Eröffnungssequenz, die erst am Ende von „City of God“ fortgesetzt wird, erinnert an die Erzählstruktur von „Pulp Fiction“.

Von den Filmen Scorseses und Tarantinos unterscheidet sich „City of God“ allerdings durch seinen halbdokumentarischen Ansatz mit seinen gut hundert Laiendarstellern, die ihm eine ausgesprochene Authentizität verleihen. Gerade diese realistische Inszenierung hinterlässt beim Zuschauer den niederschmetternden Eindruck, in einem Slum wie „Cidade de Deus“ könne Leben lediglich als darwinistischer Überlebenskampf begriffen werden. Dass allerdings diese Spirale der Gewalt durchbrochen werden kann, verdeutlich die Figur des Buscapé: Mitten im Elend kann es Hoffnung geben – man muss sie nur wollen.

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